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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: István Kemény
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war, die Bibliothek also noch nicht schließen konnte, legte er seinen schönen, silberweißen Kopf, geschützt von den
Genealogischen Beschreibungen der Familien des Ungarischen Hochadels
, wieder auf den Tisch. Die Lautsprecheranlage ist kaputtgegangen, dachte er, denn er war ein moderner Mensch.
    Die Eingeweihten hegten jedoch Hoffnungen, dass vielleicht bereits jemand tontechnische Vorbereitungen für den Abend durchführte und dabei eine Störung der Lautsprecheranlage verursacht hatte.
    Bitte, beenden Sie die Lektüre.
Bitte, beenden Sie die Lektüre
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    Es war, als müsste man das Lesen für immer aufgeben. Als wäre eine Epoche der Menschheitsgeschichte zu Ende gegangen, in der die Menschen ihren Seelenfrieden noch im Lesen gefunden hatten.
    Bitte, beenden Sie die Lektüre
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    Der apokalyptische Satz jagte durch alle Gänge, Toiletten, durch die großen, ungenutzten Räume. In der Cafeteria herrschte Hochbetrieb. Es gab hier so manchen vergnügungslustigen Leser, der geplant hatte, bis zum Abend ein ganz gewöhnlicher Leser zu sein, sich dann im Gebäude zu verstecken, um sich schließlich unter die Ballbesucher zu begeben. Unter die Besucher des Balls, von dem man nicht wusste, ob er stattfinden würde.
    Bitte, beenden Sie die Lektüre
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    Dann verstummte der Lautsprecher und es geschah nichts. Dieser Vorfall wurde einfach als eines der zahlreichen Vorzeichen betrachtet, wie es die – angeblich – vorgezogene Schließzeit war oder die Tatsache, dass die Gedenkfeier für Frau Mara Olbach bereits einen Tag zuvor stattgefunden hatte. Vielleicht, damit sie die Vorbereitungen für den Ball nicht störte, hofften die Zuversichtlicheren.
    Ein weiteres Vorzeichen war, dass in der Bibliothek ein Osteuropaexperte auftauchte. Er war ein Mensch von großem Wert. Man muss wissen, dass die Menschen auf viele verschiedene Arten ungleich sind. Der Mensch aus dem Osten hat im Laufe der Zeit einen starken Wertverlust erlebt. Vor dem Krieg (1938) war ein Deutscher höchstens zwei Ungarn wert und ein Amerikaner zwei Deutsche, später hingegen hätte man für einen einfachen Deutschen schon acht bis zehn Ungarn bekommen können.
    Dieser Osteuropaexperte kam aus England. In der Zeit, in der unsere Geschichte spielt, stand der Wechselkurs so, dass er aufgrund seiner Ausbildung fünfzehn bis zwanzig Ungarn wert war. Er hatte verschiedene Namen, unter anderem Michael und Prescott, zwischen den beiden Wörtern kamen zudem ein J. und ein L. vor, die Anfangsbuchstaben weiterer männlicher, aber auch weiblicher Vornamen sein konnten. Er kam inkognito, um die örtlichen Gegebenheiten auszukundschaften. Die BBC hatte eine Reihe, in der die großen Bibliotheken der Welt vorgestellt wurden. Und Michael J. L. Prescott war gekommen, um, als einfacher Tourist getarnt, den (niemals verwirklichten) Teil über die Korvin Bibliothek vorzubereiten. Zunächst wollte er vor allem wissen, ob die Korvin Bibliothek, die kurz nach den Rosenkriegen aus dem Blickfeld der englischen Wissenschaftswelt geraten und seitdem nie dorthin zurückgelangt war, überhaupt noch existierte. Sie existierte.
    Als Michael an Onkel Öcsis Pförtnerloge vorbeikam, ahnte dieser, dass es sich um einen Osteuropaexperten handelte, wobei er diesen vagen Verdacht nicht hätte in Worte fassen können. Elemér jedoch, der mit Händen und Füßen versuchte, Michael zu erklären, wo er sich anmelden könne, las in dessen Gesicht das fachliche Interesse bereits eindeutig ab. Zugegeben, Elemér hätte auch nicht in Worte fassen können, was genau er in den Augen Michael J. L. Prescotts gesehen hatte. Er las nämlich nie etwas, es gab einfach zu viele langweilige Bücher in der Bibliothek und so kam es, dass er auch Franz Kafka nicht gelesen hatte. Wenn er ihn gelesen hätte, hätte er vielleicht bemerkt, dass Michael den osteuropäischen Menschen in ihm beobachtete, der sich bereits halb in einen Käfer verwandelt hatte, den in tiefen existenziellen Ängsten gefangenen Untertan, die kleine Schraube in der Maschinerie des Staates. Michael, der, wie die meisten Osteuropaexperten, selbst in Oxford nicht die Zeit gehabt hatte, neben dem Deutschen und mehreren slawischen Sprachen noch zusätzlich Ungarisch zu lernen, war kein oberflächlicher Kerl. Vage ahnte er sogar, dass die vierhundert Millionen unter sowjetischem Joch lebenden Menschen, zu denen ihn das Schicksal geführt hatte, in jedem jungen Engländer mit Brille zwangsläufig einen Osteuropaexperten oder etwas Ähnliches sahen,

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