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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: István Kemény
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ein. Gábor ließ es zu, er war so verkatert, dass ihm allein beim Gedanken ans Trinken übel wurde. Ich sah es ebenfalls, wieso hätte mir gerade das entgehen sollen, wo ich doch gerade eine Vision hatte, ich wusste jedoch nicht, was mir das Recht dazu gegeben hätte, mich hier in irgendetwas einzumischen.
    „Danke, Gábor“, sagte Tabaki. „Mit denen kann man nur so sprechen.“
    Dabei blickte er gar nicht auf. Brüll auch nicht. Sie waren Geschwister. Brüll war der Ältere, deshalb nannten ihn alle Brüll, sogar Tabaki.
    „Ihr sollt auch gehen“, sagte Gábor, indem er sich zu ihm hinunterbeugte.
    „Sie bleiben, Gábor“, mischte sich Emőke Széles ein.
    „Sie bleiben nicht“, erwiderte Gábor. „Es bleibt keiner, außer dir und ihm.“
    Er deutete auf mich.
    „Er darf bleiben.“
    Infolge meiner traditionellen Erziehung hätte ich nun erwartet, dass an dieser Stelle eine schnelle, aber zeremonielle Vorstellung erfolgte – ich glaube, ihr kennt euch noch nicht, ja, das stimmt, hallo, Emőke Széles, ich bin Tamás Krizsán –, aber natürlich kam es nicht dazu. Gábor und Emőke Széles diskutierten, ob Tabaki und Brüll bleiben durften, die sich währenddessen überhaupt nicht stören ließen: Sie komponierten. Schließlich durften sie natürlich bleiben. Emőke Széles überzeugte Gábor, dass sie bleiben müssten, da sie jetzt probten. Gábor hatte mich vergessen, und Kornél ruhte sich aus.
    Seitdem wir den Raum betreten hatten, waren fünf Minuten oder maximal eine halbe Stunde vergangen. Und ich – sah. Ich sah alles, vor allem die Zukunft. Nicht die wortwörtliche Zukunft, sondern ich spürte, dass ich eines Tages so denken würde, wie ich in dem Augenblick erst fühlte.
    Tabaki und Brüll sah ich ebenfalls in der Zukunft. Sie waren anders als wir drei. Und würden stets anders sein. Sie waren und werden immer Musiker sein. Sie saßen auf dem Teppich und komponierten. Das war ihre Aufgabe. Ihnen machte es nichts aus, dass Gábor tobte, denn sie waren frei. Freiheit und Mut gehen mit dem Musikerdasein einher. Sie waren ganz anders als wir drei, Gábor, Kornél und ich. Sie waren freier und einfacher. Sie waren mehr Musiker. Diese beiden würden in dreißig Jahren noch auf einer Bühne stehen, zahnlos, mit einem zwei Generationen jüngeren Schlagzeuger und Sologitarristen.
    Gábor schloss die Tür und kniete sich wieder neben Kornél. Der zunächst nichts sagte. Er war wieder eingeschlafen.
    Und ich warf noch einen raschen Blick in Emőke Széles’ Zukunft. Sie gehörte weder zu ihnen, noch zu uns (Kornél, Gábor und mir), sie würde früher oder später (das erste war der Fall, das wusste ich jedoch noch nicht) Mutter werden, und das war in Ordnung, denn der Rock ’n’ Roll verlangte auch einem Mann alles ab und als Frau sollte man sich gar nicht erst darauf einlassen, wenn man daran nicht zugrunde gehen wollte.
    Dieser letzte halbe Satz gehörte jedoch nicht mehr zu meiner Vision, sondern er stammte von Tabaki, der Emőke Széles ermahnte, endlich zu begreifen, dass sie bei einer Probe sei.

„Eine Frau ist sowieso unglaubwürdig, wenn sie daran nicht zugrunde geht“, sagte er. „Hör wenigstens zu.“
    Und Emőke Széles, die im Bereich des Rock ’n’ Roll bisher auch keine langfristigen Pläne gehabt hatte, und seit diesem Morgen erst recht nicht, hörte zu.
    Und ich beobachtete sie, wie sie zuhörte. Und ich sah jeden und alles, nur eines nicht: meine eigene Rolle. Wie sollte ich mich bemerkbar machen? Oder wie sollte ich am nützlichsten im Hintergrund bleiben?
    Ich wählte die schlechteste Lösung: Ich war beleidigt. Wie in aller Welt hatte ich übersehen können, dass ich hier völlig überflüssig war?!
    „Wohin gehst du?“, fragte Gábor.
    „Ich komme gleich“, sagte ich und zog meinen Mantel über.
    „Gleich neben der Treppe“, erklärte Emőke Széles, wo die Toiletten zu finden waren. „Du musst nicht hinuntergehen.“
    „Mach mir ja nichts Unüberlegtes“, sagte Gábor in dem jovialen Ton, in dem man einem Freund, der zur Toilette geht, etwas Witziges hinterherruft, wobei er der Tatsache, dass ich meinen Mantel anzog, keinerlei Beachtung schenkte.
    So verließ ich die Eckkuppel.
    Draußen hatte ich dann auch keine Zeit, mich in die Kränkung so richtig hineinzusteigern, denn vor der Tür standen gleich mehrere Leute. Sie zögerten aus verschiedenen Gründen, bei Kornél zu klopfen. Einer von ihnen war Michael J. L. Prescott, der Osteuropaexperte. Neben ihm stand

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