Liebe Unbekannte (German Edition)
jetzt hörte niemand auf ihn, mit Ausnahme von Brüll, der auf der Gitarre herumklimperte: Er probte. Das tat er jedoch auch ohne Tabakis Anweisungen, und zwar unabhängig davon, ob er schlief oder wach war.
„Ameisen!“, brüllte Tabaki. „Ihr seid Ameisen! Lauter parasitäre, nichtsnutzige Ameisen! Ihr lasst die arme Grille arbeiten! Sag ihnen doch endlich, dass sie das Maul halten sollen!“
„Maul halten“, versuchte Emőke Széles ihn zu unterstützen. „Stört es niemanden, dass hier geprobt wird?!“
Es störte niemanden.
„Es stört sie nicht“, sagte Emőke Széles.
„Was probt ihr denn, Tabaki, ihr habt doch gar keine Songs.“
„Werden wir auch nicht haben, wenn hier nur dumm herumgelabert wird. Wer hat diese ganzen Insekten gebeten herzukommen?“
„Dich hat auch niemand gebeten herzukommen“, bemerkte Kornél und schloss dann wieder die Augen, um seiner Zunge nach dem schwierigen Satz ein wenig Ruhe zu gönnen.
„Und du sagst, was du willst“, sagte Tabaki, „du bist der Herr des Hauses.“
Kornél öffnete erneut die Augen, denn inzwischen war es ihm gelungen zu deuten, was er zuvor gesehen hatte: Ihm war, als hätte er in den Rauchschwaden Gábor entdeckt.
„Gábor!“, murmelte er. „Ganz ruhig … tu ihnen nichts.“
„Ich verstehe dich nicht“, sagte Gábor und kniete sich neben Kornéls Bett. „Sag es noch einmal.“
„Hör gut zu … Alles … was ich dir jetzt sagen werde …“, begann Kornél, Brülls Gitarre schnitt ihm jedoch das Wort ab. Und für eine Weile hörten alle dem halb fertigen Song
Todesentzündung
zu. Es waren aggressive, wilde Akkorde, man musste ihnen zuhören, wobei Kornél nur wieder einschlummerte, und Elemér erschrocken die Flucht ergriff, seine Mission hatte er ohnehin schon erfüllt: Als wir ankamen, hatte er bereits alle Anwesenden einen Zettel ziehen lassen. Für Kornél hatte Emőke Széles gezogen. Uns hatte er in dem großen Durcheinander vergessen, das war jedoch auch egal, denn die Idee mit den Wünschen war ohnehin zu spät gekommen und war auch schlecht organisiert gewesen, die Hälfte der Bibliotheksmitarbeiter stand gar nicht auf den Zetteln, Elemér war für die Aufgabe ebenfalls ungeeignet und am Ende fand die Sache gar nicht statt. Die Zettel der Anwesenden zum Beispiel waren, mit Ausnahme der von Emőkes Széles und Kornél, praktisch jetzt schon verloren worden: Sie waren in die Hosentaschen gesteckt und vergessen worden oder lagen irgendwo im Zimmer herum.
„Sieh nur, wie’s dir ergangen ist!“, brüllte Tabaki.
„Todesentzündung!“, krächzte Emőke Széles.
„Wie sich die Zukunft in dich frisst!“, brüllte Tabaki.
„Todesentzündung!“, krächzte Emőke Széles.
„Du dachtest: Nun läuft alles glatt!“, brüllte Tabaki.
„Todesentzündung!“, krächzte Emőke Széles.
„Nun kommt der Arzt, setzt dich schachmatt!“, brüllte Tabaki.
„Todesentzündung!“, krächzte nun auch Brüll, um der im Refrain verdichteten essenziellen Aussage das gebührende Gewicht zu verleihen. „Todesentzündung! Todesentzündung!“
Um Brülls Hals hing eine in einen Aluminiumhaken auslaufende Schlinge. Es war ein einfacher Gegenstand, aber er hatte etwas an sich, das einen verrückt machte. Denn seine Funktion sprang förmlich ins Auge: Er diente dazu, sich jederzeit, überall, sofort erhängen zu können. Brüll trug ihn als Schmuck. Emőke Széles hatte ihm die Schlaufe geliehen, um seine Bühnenpräsenz zu verstärken. Brüll war kurz zuvor erwacht. Er hatte seit einem halben Jahr geschlafen, war so herumgelaufen, hatte im Schlaf gegessen, getrunken und dabei war ihm auch so manches in die Hände gekommen. Zum Beispiel die Flasche Wodka.
Für einen Augenblick verstummte die Musik.
„
Du Esel, streng dich an
“, hörte ich in der Stille. Ich war ein Kind gewesen, als diese Stimme das letzte Mal zu mir gesprochen hatte. Dann fiel mir jedoch ein, dass ich sie bereits am Abend zuvor, auf dem Löwenhof und nicht nur dort, sondern seit dem Sommer sogar schon mehrmals gehört hatte. Plötzlich wurde mir klar, dass sie von hier, aus meinem Erwachsenenalter in meine Kindheit hinübergeklungen war. Bevor mir noch bewusst geworden wäre, dass ich eigentlich ununterbrochen, alle Tage, diesen Satz in den Ohren hatte, setzte die Musik zum Glück wieder ein und wischte den ganzen Gedankengang fort.
„Alles ist aus, mach dir nichts draus!“
„Todesentzündung!“
„Ob Erstickungstod oder
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