Liebe Unbekannte (German Edition)
Emma Olbach, ich hatte den Eindruck, sie seien zusammen gekommen. Und im Hintergrund schlich Elemér aus vier Gründen herum, wobei sich die ersten beiden gegenseitig aufhoben. Erstens, war ihm eingefallen, dass er vergessen hatte zu erklären, weshalb wir die Zettel ziehen sollten, zweitens, weil sich inzwischen herausgestellt hatte, dass es eigentlich egal sei, da die Sache mit den Glückwünschen tatsächlich ausfallen würde, es sei zu wenig Zeit dafür, vielleicht nächstes Jahr, drittens hatte jemand den Osteuropaexperten hinaufbegleiten müssen, da man irgendwann verstanden hatte, dass er Kornél suchte, und schließlich viertens: Weil er auf der Jagd nach mir war.
„Steigt da drinnen ein Fest?“, fragte Emma. Es war ihr anzusehen, dass sie darüber nicht sonderlich erfreut war.
„Es ist eher eine Bandprobe“, antwortete ich der schönen Unbekannten. „Oder etwas in der Art.“
Ich hatte keine Zeit zu erklären, was drinnen stattfand. Emma verzog den Mund und ging. Sie hatte eingesehen, dass sie jetzt nicht mit Kornél würde sprechen können. An einem neutralen Ort wäre es ohnehin besser, vielleicht würde sie am Abend auf dem Ball die Möglichkeit haben. Sie war in Eile.
Sie ging in die Tűzoltó Straße zu ihrem Großvater. Onkel Olbach lebte auch nach Tante Maras Tod dort. Er war schwach, man konnte ihn in dieser Kälte nicht allein nach Nyék zurückziehen lassen. Er suchte seine Memoiren: Er saß an Emmas Schreibtisch und durchforstete Tante Maras Tagebuchhefte. Er sah kaum noch. Nach dem Mittagessen half Emma ihm. Sie fanden keine Memoiren. Sie hatten gedacht, ein oder zwei Hefte zu finden, auf denen mit Großbuchstaben
Endre Olbach: Mein Leben und das 20. Jahrhundert
geschrieben stand. Aber so ein Heft gab es nicht. Dafür gab es Hunderte von anderen Heften. In schöner, jedoch schwer lesbarer Handschrift geschriebene Hefte. Sie waren beim zweiten Heft ungefähr auf Seite sechzig. Sie hatten schätzungsweise noch zehntausend vor sich.
„Soll ich sie durchblättern?“, fragte Emma, da sie davon ausging, dass memoirenartige Aufzeichnungen eher gegen Ende zu finden seien. Es war unwahrscheinlich, dass ihre Großmutter noch vor den siebziger Jahren an diese Memoiren-Sache gedacht hatte.
„Lass sie uns alle lesen, Mädchen“, sagte Onkel Olbach. „Wir wollen nicht herumspringen.“
Sie lasen und sprangen nicht herum. Wenn Emma ihm beim Entziffern half, ging es ein bisschen schneller voran.
„Soll ich sie nicht vielleicht doch durchblättern?“
„Es gibt gar keine Memoiren!“, sagte ihr Großvater gereizt. „Sie wollte nur, dass ich einmal ihr Tagebuch lese.“
Und sie lasen weiter.
Emma drehte sich noch einmal um und bedeutete Michael, dass sie nun doch nicht hineingehen würde, Michael solle jedoch ruhig sein Glück versuchen, wenn er wolle. Sie lächelte ihn ermunternd an. (Ich dachte danach jahrzehntelang, sie hätten sich gekannt.) Sie hatte ein süßes Lächeln. Dann verschwand sie samt Lächeln im verworrenen Halbdunkel des Dachgeschosses.
Nachdem sie weg war, blickten Elemér und ich zu Michael und er zu uns. Offenbar übte bereits das riesige Dachgeschoss eine große Wirkung auf ihn aus, ebenso wie auf mich, da ich auch zum ersten Mal hier war, in die Eckkuppel waren Gábor und ich ja durchs Fenster hineingeklettert. Michael begriff, dass Emma offensichtlich vor einer unbekannten Gefahr geflohen war, die jenseits der Tür auf sie lauerte. Was mochte da drinnen sein? In seinen Augen flackerte Abenteuerlust auf. Elemér und ich bedeuteten ihm anzuklopfen. Er klopfte. Nichts. Er steckte den Kopf hinein. Er atmete tief ein und zog sich wieder zurück. Es war ihm anzusehen, dass es nach seinem Geschmack war, was er gesehen hatte.
„Hm“, sagte er anerkennend und schloss die Tür. „Sehr gut“, sagte er auf Russisch.
Er steckte den Kopf erneut durch die Tür.
„Hinaus“, hörte ich Gábor rufen.
Michael zog den Kopf grinsend zurück. Er sah uns an, bedeutete, wir sollten aufpassen, und steckte den Kopf wieder hinein.
„Ich sagte, hinaus!“
Michael zog den Kopf wieder zurück. Das Spiel amüsierte ihn. Er grinste uns an, wir sollten aufpassen, dann steckte er den Kopf durch die Tür. Schließlich ging er einfach hinein. Dabei dachte ich, Gábor würde ihn nun mit dem Bajonett aufspießen. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Elemér und ich blieben zu zweit.
„Oh, oh!“, sagte er. „Ich würde mich jetzt nicht trauen, da hineinzugehen. Was für ein Glück,
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