Liebe Unbekannte (German Edition)
Bandprobe gehört, aber ich erkannte den halb fertigen Song: Ja, das war es! Ich kannte diese Richtung, da war alles drin, Toben und Raffinesse, diese beiden mickrigen Instrumente klangen genau so, wie sie zu klingen hatten, ich hörte alles heraus, was okkult und exklusiv war, brandneu und westgewandt, und ich hätte Tabaki und Brüll bis zum Abend oder mein ganzes Leben lang zuhören können, es ging jedoch nicht: Ich musste die Eckkuppel verlassen, denn ich würde niemandem hinterherrennen! Dabei wusste ich, dass ich einen Fehler beging. Ich wusste, ich müsste bleiben, denn diese Menschen würden meine Freunde werden. Und – was auch kein zu vernachlässigender Aspekt war – vielleicht schlug in diesem Moment sogar der Puls der Welt in der Eckkuppel, denn der junge Engländer war offenbar nicht nur irgendjemand. Ja, er machte den Eindruck, als ob er der Bote der Freiheit höchstpersönlich sei. Und ich hatte die Freiheit feige von mir weggestoßen. Ich hatte mein Schicksal verdient. Sollte Elemér also kommen. Ich würde ihm huldigen.
Ich verbrachte trotzdem fünf Minuten auf der Toilette und spülte sogar, dabei hatte ich sie gar nicht benutzt. (Wobei das Spülen auch nicht schadete, denn Kornél hatte sich am Morgen hier übergeben.) Meine letzte Hoffnung war, dass Elemér vielleicht nicht mehr vor der Tür stehen würde. Dass er mich vergessen habe, irgendwo anders hingegangen sei, jemand anderen gefunden habe, es war schließlich möglich, dass ich es mir nur einbildete und ich ihm gar nicht so wichtig war. Und dann würde ich vielleicht doch noch all meinen Mut zusammennehmen und in die Eckkuppel zurückschleichen. Elemér überließ jedoch nichts dem Zufall. Er hatte es auf mich abgesehen. Er stand vor der Toilette.
„Endlich ist das verlorene Schäfchen wieder aufgetaucht! Können wir gehen, oder willst du dich von deinem Herzallerliebsten noch verabschieden? Wird er nicht mit dir schimpfen, wenn du einfach so mitkommst? Ich will nicht, dass er mit dir schimpft.“
„Welche Aufgabe hast du für mich?“, fragte ich in der Bestrebung, die Unterhaltung auf die praktische Ebene zu lenken.
„Das wirst du schon sehen, Schätzchen. Neugier ist der Katze Tod, aber wenn du es unbedingt wissen willst: die Tanne. Wir müssen ein paar kchäftige Burfen finden, denn wir bräuften einen fünf Meter hohen Baum, mindeftenf fünf oder fechs. Fechs wäre doch ein bisschen übertrieben, eher fünf Meter, genau fünf, oder vier, viereinhalb. Je nachdem, wie viele kchäftige Burfen wir finden. Denn der Ball wird unten in der Bródy stattfinden, und jetzt muss alles da hingechleppt werden. Allef Mögliche, Verftärker, das Büfett und die Dekoation.“
Mal lispelte Elemér, mal hatte er Schwierigkeiten damit, das R auszusprechen. Aber keines der beiden Symptome war so ausgeprägt, dass man es als Sprechstörung hätte bezeichnen können. Manchmal vergaß er es auch ganz. Seine Sprache hatte jedoch etwas an sich, wodurch die Wörter den Eindruck erweckten, sie würden schleichen. Als er Gábor meinen Herzallerliebsten nannte, tauchte an den unterschiedlichsten Stellen immer wieder ein kaum merkliches H auf: Herzahllerliehbsther.
„Darf ich dich loslassen, oder rennst du mir weg?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Kann ich mich darauf verlassen?“, fragte er, wobei er vorsichtig am Ärmel meines Mantels zog. Er testete, ob der Stoff fest genug war, damit er mich hinter sich herziehen konnte, denn das war es, was er vorhatte.
Ich zuckte die Schultern: Sollte er mich doch hinschleppen, wohin er wollte. Ich bemühte mich zu zeigen, dass ich nicht sonderlich froh darüber war, was geschah. Dabei hatte er mich schon in seinen Bann gezogen. Mit den Zeugen Jehovas ergeht es mir stets genauso, wenn ich es nicht gleich im ersten Moment schaffe, sie wegzuschicken. Sie ziehen mich mit ihren Worten in den Bann. Mit ihrem kleinen einstudierten Text. Den sie letztlich an mich richten, denn mich haben sie sich ausgesucht, um ihren Text vorzutragen. Sie ziehen mich in ihren Bann, indem sie das ganze einfältige Wohlwollen von sechstausend Jahren an mich richten.
„Ihr braucht also jemanden, der beim Tragen hilft?“, fragte ich, ein Lächeln unterdrückend, da ich wusste, dass die Sache mit dem Tragen nur ein Vorwand war.
„Schätzchen, das war so: Ich habe unten erzählt, dass ich dich und deinen Herzallerliebsten gesehen habe, hier in der Eckkuppel. Du kannst dir nicht vorstellen, was ich von Schwesterchen dafür bekommen
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