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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: István Kemény
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hinter Kornél zu und ging.

18.
KLEINES LÄMMLEIN
    Invokation:
Wohnt hier Jesus, daß wir ihn
anschaun und die Kronen ziehn?
    Wir sind weg zu Fuß, so eilig,
über uns ein Stern hochheilig,
und ein kleines Lämmlein
weiset uns zur Tür rein
.
    König Melcher, das wär ich.
Süßes Kindlein, höre mich
.
    Attila József. Gedichte. Auswahl. Corvina, Budapest 1978.
Nachdichtung von Peter Hacks
    Endlich war ich allein. Zum ersten Mal seit dem vorhergehenden Mittag, mein Kopf brummte vom Lärm der Eckkuppel, ich war keine Gesellschaft gewohnt. Ich konnte mich jedoch nicht sammeln, da ich ein Gefangener in einer Toilette war, irgendwo im Dachgeschoss. Es gab kein Entkommen. Vor der Tür stand Elemér und bewachte mich. Er war bereits seit Langem auf der Jagd nach mir und würde mich jetzt nicht einfach gehen lassen. Das sei aber auch gut so, dachte ich, es habe so kommen müssen, ich sei selbst daran schuld. Ja, Elemér habe ein Recht auf mich. Das Einzige, was ich tun könne, sei zu versuchen, stark zu bleiben.
    Ich wusste jedoch, dass es mir schwer fallen, da er mich in seinen Bann ziehen würde. Ich hatte ihn in der Bibliothek oft mit anderen reden gehört, die dann hinter seinem Rücken grinsten, aber ich konnte kaum weitergehen, hätte ihm ewig zuhören können. Elemér war für das Filmarchiv zuständig, die Bibliothek verfügte jedoch nur theoretisch über ein Filmarchiv, weshalb Elemér praktisch jederzeit überall im Gebäude auftauchen konnte. Ich wusste nicht, was sein Geheimnis war, spürte jedoch, dass ich, wenn er mich eines Tages anspräche, nicht von ihm loskäme.
    Am Tag zuvor hatte ich gesehen, dass er sich Sorgen machte, als er mich mit Gábor sah. Er spürte offenbar, dass dies seine letzte Chance war: Wenn er mich jetzt nicht schnappte, würde Gábors Freundeskreis einen solchen Sog auf mich ausüben, dass er nichts mehr tun könnte. Dann wäre ich für ihn verloren. Er hatte mir gezeigt, wo sich in dem chaotischen, mehr oder weniger ausgebauten Dachgeschoss die Toiletten befanden („Hier kannst du pinkeln, Schätzchen“), und ich betrat diese, zum Schein. Und um Zeit zu gewinnen.
    Ich stand vor einer Entscheidung. Ich sah vier Möglichkeiten: Die erste war, die Toilette zu verlassen, mit raschen Schritten an Elemér vorbeizugehen, zurück in die Eckkuppel, mich hinzusetzen und darauf zu warten, dass der Sog von Gábors Freundeskreis (oder was ich dafür hielt) mich verschlang. Die zweite war, die Toilette zu verlassen, Elemér behutsam zum Teufel zu schicken, da den Armen meine Angelegenheiten im Grunde überhaupt nichts angingen und er kein Recht hatte, mich zur Rechenschaft zu ziehen, danach zurück in die Eckkuppel zu gehen, da ich der Dritte war, und das nun auch wusste, und die Menschen da drinnen meine Freunde waren, auch wenn sie es womöglich selbst noch nicht wussten. Die dritte Möglichkeit war, nach Hause zu fahren und alles zu überdenken, was seit dem Vortag, als ich mich selbst im Eis erfroren erblickt hatte, mit mir geschehen war: Weshalb saß ich in einer unbeheizten Dachgeschosstoilette, um Zeit zu gewinnen? Überhaupt: Weshalb wollte ich immer Zeit gewinnen?
    Mit anderen Worten bedeutete dieser Weg, mein Schicksal endlich in die Hand zu nehmen.
    Die vierte Möglichkeit war, mich Elemér zu überlassen, sollte er mich mitnehmen, wohin er wollte. Sollte er mich doch zur Rechenschaft ziehen, wenn er es für notwendig hielt, denn es war zwar offensichtlich, dass er irgendetwas vollkommen falsch verstand, dennoch lag er richtig mit der Annahme, dass ich diese sehr traurige Geschichte auch gerne endlich abgeschlossen hätte.
    „
Du Esel, streng dich an
“, sagte die Stimme.
    Ich entschied mich für die vierte Möglichkeit: Ich überließ mich Elemér, sollte er mich doch dorthin mitnehmen, wohin er wollte, sollte geschehen, was geschehen musste. Die Entscheidung bedurfte einiger Erbitterung, über diese verfügte ich in dem Moment jedoch zur Genüge.
    Ich hatte mich in Gábor getäuscht. Er hatte sehen müssen, dass ich meinen Mantel anzog, damit er bemerkte, dass ich nicht auf die Toilette, sondern losgehen wollte. Es war mein freier Tag, und ich war nur wegen ihm in die Stadt gekommen, das hatte er wissen müssen. Ihm war es jedoch egal, wo ich hinging. Es war sonnenklar: Er hatte mich nur gebraucht, bis er sich mit seinem Freund versöhnte. Nun gut, dann gehe ich eben, ihr habt es so gewollt!
    Es tat mir um die Eckkuppel jedoch sofort unsäglich leid. Ich hatte noch nie eine

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