Liebe Unbekannte (German Edition)
es hätte ihnen auch nichts ausgemacht, wenn der Name Viola Dévai nicht weitervererbt werden würde (wobei sogar noch das Adelsprädikat von Tyukod dazugehörte), denn in den Jahrzehnten nach dem Krieg konnten die Menschen infolge des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts weltweit in die Zukunft blicken, wo Adelsnamen, neben allerlei anderem nutzlosem Zeug, keinen Wert mehr darstellen würden. So kam es, dass die Eltern Viola Dévai ebenfalls in die Zukunft blickten und sich dort selbst sahen: alt, mit Elemér, oder, was noch schlimmer wäre, ohne ihn. Und plötzlich wurde Éva Viola Dévai als spätes Kind geboren und bekam zwei Mütter, von denen die eine ihr Bruder war.
Ich arbeitete erst seit ein paar Wochen in der Bibliothek, als ich mich an einem Nachmittag im Juli dazu entschloss, mir noch vor der einmonatigen Sommerschließzeit Schwesterchen anzuschauen, die sich angeblich stets auf dem Königinnenbalkon aufhielt. Es hatte eine Weile gedauert, bis ich von ihr erfahren hatte, aber irgendwann kam es dazu. Eines Tages beschwerte sich Frau Mirák mir gegenüber, nicht ohne gewisse wohlwollende Hintergedanken, über die Zustände in der Bibliothek, und sagte, da sei zum Beispiel die Schwester von Elemér, die sich den ganzen Nachmittag lang auf einer Matratze auf dem Königinnenbalkon sonne, mit Sonnenbrille und Kopfhörern, rauche und angeblich Italienisch lerne. Im Bikini. Und das in einer Bibliothek! Was ich denn davon halte? Ich schüttelte mit ernster Miene routiniert den Kopf und fragte: Im Bikini?! Also, das sei ja einfach unerhört. Meine Antwort sagte Frau Mirák, dass es sich bei mir um einen wohlerzogenen, etwas kecken Burschen handelte, der über guten, gesunden Humor verfügte, ganz anders als die Jugendlichen von heute. „Schlingel“, sagte sie, und drohte mir mit dem Finger. Ich war leider kein Schlingel, aber allein schon die Annahme tat gut. Wie ich mit ihnen umzugehen hatte, wusste ich zwar auch bei älteren Frauen nicht, aber ich wusste, wie ich mich ihnen gegenüber zu benehmen hatte, schließlich war ich durch Onkel Lajos’ Schule gegangen. Wenn ich Frau Mirák einmal mein Herz ausgeschüttet hätte, hätten sich alle alten Frauen der Bibliothek verbündet, um ein
kesses Mädchen
für mich zu finden. Ich wollte mich jedoch selbst für jemanden entscheiden und schüttete daher mein Herz keiner der alten Frauen in der Bibliothek aus.
So kam es, dass ich auf den Königinnenbalkon schlich, um Schwesterchen zu sehen. Sie war nicht da. Der Balkon war jedoch nicht leer. Einer der Hausmeister, ein offensichtlich bereits völlig kaputter Mann von paarunddreißig Jahren, hatte seine Tochter heraufgeschmuggelt und versuchte gerade sie glauben zu machen, sie sei eine Prinzessin. Eines der Brillengläser des Mädchens war abgeklebt, mit dem anderen Auge schielte sie. Ihr lief die Nase, den Rotz leckte sie ab. Ihr Vater (sie ähnelten sich im Gesicht) setzte dennoch all seine Redekunst ein, um sie davon zu überzeugen, dass sie ganz gewiss eine Prinzessin sei.
„Eure Königliche Hoheit“, sagte er, seinen höchsten und einzigen Trumpf ausspielend, und machte eine lustige Verbeugung. Er schwankte dabei ein bisschen, da er bis zum Umfallen betrunken war. Das Mädchen lachte albern, aber nicht über seinen Vater, sondern mit ihm. Da war ich mir ganz sicher. Und ich sah auch, dass dies ein glücklicher Moment war. Ich zog mich nur deshalb nicht gleich taktvoll zurück, weil ich die Lage als gefährlich einschätzte, da im Grunde niemand bei ihr war: Schwesterchen war, trotz aller Gerüchte, nicht hier, das Mädchen war allein mit diesem stockbesoffenen Kerl, es selbst war zurückgeblieben, und vom Königinnenbalkon aus ging es vierzig Meter in die Tiefe, da der Palast auf dieser Seite am höchsten war. Der Mann würde es noch fertig bringen, sie auf die Brüstung zu setzen. Ich musste dableiben, um aufzupassen. Im Namen der Vernunft. Also blieb ich, um unbeholfen im Hintergrund des glücklichen Moments herumzulungern.
„Eure Königliche Hoheit“, sagte der Kerl mit einem noch lustigeren Lächeln und einer noch tieferen Verbeugung. Er hielt sich dabei an der Brüstung fest, stolperte trotzdem. Sie lachten wieder.
„Noch einmal“, befahl das Mädchen. Es verhielt sich wie eine Vierjährige, sah aus wie eine Achtjährige und war neun Jahre alt. Ich erkannte ihr Alter, in der Förderschule hatte ich viele solche Kinder gesehen.
„Eure Königliche Hoheit“, sagte der Vater mangels einer
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