Liebe Unbekannte (German Edition)
Gerda rettete mich, noch bevor ich mich auf Verhandlungen eingelassen hätte. Sie steckte den Kopf aus dem Wohnzimmer.
„Ist er weg?“, fragte sie und fuhr in offiziellem Ton fort. „Erika, wärst du so nett hereinzukommen, damit wir etwas besprechen können?“
Erika war so nett, wenn auch nicht sonderlich bereitwillig. Sie wusste, dass Gerda sie heruntermachen würde, und sie nicht damit rechnen konnte, von Mutter beschützt zu werden. Mit einem Seufzer verschwand sie im Wohnzimmer.
Erika war im Februar bei Gerdas Bandweihe von Vadda zum Tanz aufgefordert worden, und am nächsten Tag war er schon bei uns, um sie abzuholen. Seitdem hatte Erika Gerda schon öfter versprochen, mit Vadda Schluss zu machen. Sie selbst wollte es auch. Und nicht nur, weil sie nicht in ihn verliebt war. Natürlich war sie es nicht, das war gar keine Frage, sie hätte sich auch nie getraut, Gerda eine derartige Lüge aufzutischen. Keiner (außer mir vielleicht) kam auf die Idee, dass Erika auch nur eine Sekunde lang in ihn verliebt gewesen wäre, das behauptete sie auch Vadda gegenüber nicht, kein einziges Mal. Das ist sicher. Nicht einmal Gerda hätte von ihr angenommen, dass sie so etwas behauptete. Gerda nahm Erika einfach nur übel, dass sie mit siebzehn Jahren mit jemandem ging, einzig und allein deshalb, weil man das als Mädchen mit siebzehn eben schon macht. Das nahm ihr Gerda wirklich sehr übel. Aber vielleicht wäre sogar das noch verzeihlich gewesen. Gerda war Erika aber nicht nur böse, sie war auch gekränkt, weil Erika eine Verräterin war. Sie ging mit einem Jungen aus Nyék, dabei hatten sie sich Jahre zuvor, als auch Erika in das Nyéker Gymnasium kam, geschworen, sie würden nie etwas mit einem Jungen aus Nyék anfangen.
Gerda nahm den Schwur ernst, da sie strenge Prinzipien hatte, und das auch von der ganzen Familie erwartete. Erika und mir tat Gerdas Strenge gut, denn wir waren beide nicht aus hartem Holz geschnitzt.
Gerda und Erika hatten es sich gegenseitig geschworen, da sie wussten, dass man leicht vom Weg abkommen konnte. Das moderne Leben machte an den Grenzen Nyéks halt. Es reichte schon, nur für einen kurzen Moment daran zu glauben, dass es auch außerhalb von Budapest Leben gab. Von wie vielen Nyéker Mädchen hatten sie gehört, die ein besseres Schicksal verdient hätten, aber schwach geworden waren. Gerda wusste, und Erika wusste es auch, dass ein auch nur ein bisschen attraktives Mädchen sich davor zu hüten hatte, im Nyéker Bus aus
Anna Karenina
aufzublicken, andernfalls hätte sie sich bereits am gleichen Abend in der Disco von Kettes oder Bokros wiederfinden können, inmitten von irgendwelchen unmöglichen Kerlen aus Nyék, Kettes, Bokros oder sogar Kál. Und noch bevor es sich besann, hätte es schon jemanden aus Kettes, Bokros, Kál oder eben aus Nyék zum Ehemann.
Gerda las immer, wenn sie mit dem Bus oder dem Zug von oder nach Nyék fuhr, sie blickte nie auf, um ja nicht von einem Nyéker Jungen angesprochen zu werden. Das war ihre Methode, und diese war durchaus effektiv. Jahre später, als ich auch schon älter war und mit dem letzten Bus aus der Stadt nach Hause fuhr, sah ich Gerda öfter zusammengekauert lesen, die Knie gegen die Vorderlehne gestützt. Ich konnte mich neben sie stellen. Nie blickte sie auf. Ich musste sie immer zuerst grüßen, bevor sie mich ansah. Heute, wo sie bereits seit Langem allein in Nyék wohnt, blickt sie auch nicht auf, wenn sie mit dem Bus fährt. Die Knie stützt sie nicht mehr gegen die Vorderlehne, das würde nicht zu ihrem Alter passen. Aber die Gefühle, die sie damals dem Dorf gegenüber hatte, hat sie immer noch.
Und all das hatte Erika nun verraten.
Das war das Thema im Wohnzimmer. Gerda hätte Erika dafür umbringen können, dass sie sich mit Vadda abgab. Die Geräusche von Erikas Folter waren bis in die Küche zu hören.
„Meine Liebe, wo ist eigentlich dein Rückgrat? Das ist ein ungehobelter Klotz. Aus ihm wird nie ein Intellektueller. Der braucht dich doch nur, um sich mit dir zu schmücken!“
„Was bist du eigentlich? Deine eigene Großmutter?!“, schrie Erika. Aber da überwand sich Vater endlich, ergriff das Wort, um so von dem aus dem Wohnzimmer strömenden Hass abzulenken, welcher im Übrigen der gemeinsame Hass der beiden Mädchen gegen die unwürdige Umgebung Nyék war. (Einander liebten sie natürlich.)
Nyék nahm diesen Hass jedoch nie zur Kenntnis. Es war eine krokodilförmige Gemeinde, die ihren Kopf auf der
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