Liebe Unbekannte (German Edition)
dem er ohnehin kein Sterbenswörtchen verstehe, ruhig absehen. Genauer gesagt verstehe er nur die Sterbenswörtchen, nicht aber den philosophischen und technischen Hintergrund. Falls er mit dem Übersetzen doch fortfahren wolle, solle er wenigstens ihn, Doki, in Frieden lassen, ihn nicht nötigen, ihm zu helfen, sich die Relativitätstheorie nicht zum zwanzigsten Mal erklären lassen, denn für ihn sei es auch ohne Ervin Gáls Nervtöterei schlimm genug, dass die Entwicklung der Menschheit stehen geblieben sei. Es tue ihm leid, aber er sei eben so ein Kerl, der sich an so etwas stoße.
„Natürlich könnt ihr sagen, dass ich nicht ganz dicht bin“, wandte er sich, inzwischen allein, beim Pinkeln an die weißen Fliesen. Dabei hatte er nur zur Hälfte recht: Die Entwicklung der Menschheit blieb tatsächlich stehen, aber nach späteren Berechnungen erst ungefähr vier Wochen nach der Mondlandung. Ihre eigene Trägheit trieb sie noch ungefähr vier Wochen lang weiter. Den Moment, an dem die Entwicklung stehen blieb, registrierten nur wenige Erdbewohner, und auch diese betrachteten das nicht als Problem. Doki ahnte zumindest irgendetwas.
Für Onkel Olbach war Patai der Verdächtigste von allen. Er hatte die am meisten geheimnisumwitterte Vergangenheit. Er war seit über zehn Jahren in der Bibliothek. Als Onkel Olbach aus dem Gefängnis entlassen, rehabilitiert, ausgezeichnet und an die Spitze des IHE zurückgesetzt wurde, fand er Patai bereits dort als seinen Stellvertreter vor. Dabei hatte dieser auch eine Stelle an der Pädagogischen Hochschule.
Angeblich war er Philosoph, wobei er ans IHE aus dem Archiv des Staatlichen Kirchenamts (SKA) versetzt worden war. Das SKA hatte zwei Aufgabenbereiche: Auf lange Sicht diente es dem hehren marxistischen Ziel, alle Religionen und andere falsche Bewusstseinszustände zu eliminieren, was auf alltäglichem (operativem) Niveau das Schikanieren, Kompromittieren und die moralische Zersetzung jedweder Kirche bedeutete. Von hier kam also Patai Mitte der fünfziger Jahre ans IHE und erweckte bei seinen Kollegen verständlicherweise keinerlei Sympathie. Über eigene Werke verfügte er auf jeden Fall nicht, das hatte Onkel Olbach gleich recherchiert. Gewiss, Sokrates hatte auch keine Werke hinterlassen, also bewies das noch lange nicht, dass Patai kein Philosoph war. Er war eine rätselhafte Gestalt, was nicht bedeutete, dass man nichts über ihn wusste, im Gegenteil, es gab zu viele Informationen über ihn. Unter anderem erzählte man sich, er sei Mitglied der Pfeilkreuzlerpartei gewesen und später dann in die Staatssicherheitsbehörde eingetreten (oder war das seine Frau?), sein Diplom habe er in der Sowjetunion gemacht, ja, eigentlich verfüge er über gar kein Diplom, habe sich dafür – als Arbeitskollege von Leopold Szondi, wem sonst – in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre mit Schicksalsanalyse beschäftigt oder nein, er habe sich gar nicht damals, sondern heute damit beschäftigt, vielleicht war es aber auch in den fünfziger Jahren gewesen, als nämlich eine heimliche, ganz Budapest umfassende schicksalsanalytische Studie erhoben wurde, oder nur fast erhoben, weil die Erhebung von den Ereignissen im Herbst 1956 unterbrochen wurde, wenn diese Ereignisse nicht vielleicht sogar das Ergebnis dieser Studie waren … Und so weiter. Die Bibliothek hatte haarsträubende Vorstellungen von Patai – wobei die Bibliothek von allem haarsträubende Vorstellungen hatte. Was man über ihn (von ihm selbst) ganz sicher wusste, war, dass er in seinem Leben genau tausend Frauen verführen wollte, was ihm bei mindestens achthundert schon geglückt war.
Verglichen mit Patais Zukunft war all dies jedoch nebensächlich. Über Patais Zukunft wusste niemand etwas. Es gab zwar die Vorstellung, dass er vielleicht der Mensch der Zukunft sei, bei diesem Gedanken verweilte die Bibliothek jedoch nicht gern lange.
Onkel Olbach musste jedoch als Chefredakteur dabei verweilen. Also tat er dies widerwillig. Er beobachtete Patai jahrelang, wonach er und Tante Mara zu dem Schluss kamen, Patai warte. Er sitze in der Bibliothek und warte geduldig auf irgendetwas. Er sei ein mit sich selbst entzweiter Kommunist, der sich für bessere Zeiten aufhebe, ja, Tante Mara war sogar der Ansicht, er sei ein kommunistischer Eremit. Ein Eremit, der in die Ödnis ausgewandert sei (worunter in diesem Fall die Enzyklopädie-Redaktion zu verstehen ist), warte und nachsinne. Genauer gesagt, eher spekuliere, dort in der
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