Liebe Unbekannte (German Edition)
Zauberschnaps bereit.
Onkel Olbach wollte es nämlich zu einem Gottesurteil kommen lassen.
Seine Idee war, sich im gegebenen Augenblick der Feier in die Mitte des Raumes zu stellen und loszubrüllen. Wenn er noch würde brüllen können. Wenn er nicht mehr würde brüllen können, weil er zu dem Zeitpunkt zu betrunken wäre, dann wäre das auch gut, dann würde er eben das als Gottes Urteil akzeptieren. Wenn er jedoch noch würde sprechen können, würde er ungefähr folgende Worte an die Anwesenden richten:
„Meine Freunde! Wir befinden uns in einer entsetzlichen Lage. Unser Sohn Iván hat beschlossen, das Land zu verlassen. Nach seiner Ausstellung im August in Zagreb werden er und seine Frau an die Adria weiterfahren, von dort aus nach Italien fliehen, Asyl beantragen und Emma wird ihnen – wahrscheinlich innerhalb eines Jahres – nachreisen können.
Ihr wisst ja, dass Iván unser letzter Sohn ist.
Mara und ich haben versucht, ihn zu überzeugen, ihm gedroht, alles vergebens. Wir haben ihn sogar erpresst und gesagt: Wir werden eure Tochter nicht nachreisen lassen. Ihr verdient es nicht. Wir werden sie großziehen. Und Mara sagte, sie würde Emma einfach alles erzählen, ihre Eltern bei ihr verraten, ihr mitteilen, dass diese vorhätten, sie zu verlassen. Danach schworen Iván und Edit, nach zwei Wochen schön braun gebrannt von der Adria zurückzukommen. Ein Schwur ist ein Schwur, auch wenn er falsch ist. Mara und ich haben so getan, als würden wir es glauben. Haben wir aber nicht. So sieht es aus.
Meine Freunde. Ihr wisst davon. Die ganze Bibliothek weiß seit Wochen davon. Ihr schließt Wetten ab, ob sie zurückkommen werden oder nicht. Ich habe keine Ahnung, wer derjenige ist, der über alles Bescheid weiß, aber diese Person sitzt jetzt hier unter uns und ich bitte diese Person, Erbarmen mit uns zu haben. Sie soll meinen Sohn und meine Schwiegertochter an der zuständigen Stelle anzeigen. Damit sie gar nicht erst nach Jugoslawien fahren können, man soll ihnen ruhig die Pässe wegnehmen, dann können sie nicht weg, können uns nicht im Alter allein zurücklassen. Ich habe gesprochen.“
Ungefähr diese Ansprache hätte Onkel Olbach vor dem Ältestenrat gehalten. Und das tatsächlich im allerletzten Moment, in dem derjenige, der über entsprechende Verbindungen verfügte und Mitleid mit den Olbachs hatte, die notwendigen Maßnahmen hätte ergreifen können, falls ihm das Herz nicht abhanden gekommen war. Sie wäre vielleicht nicht ganz so detailliert und ehrlich, aber auf jeden Fall haarsträubend gewesen. Und vielleicht hätte er wirklich gebrüllt.
Die Lage erschien wahrhaftig aussichtslos.
Der Familienplan für den Tag der Abreise, den 21. August, einem Donnerstag, stand seit Anfang des Sommers fest. Doch es tauchten zwei Hauptschwierigkeiten auf. Die erste war Emma: Die Sache sollte sie so wenig wie möglich mitnehmen. Zuerst müsste man ihr nur sagen: „Deine Eltern verreisen, kommen aber bald zurück, morgen oder übermorgen.“ Es würde Aufgabe der Großeltern sein, dem Mädchen behutsam beizubringen, dass es lange auf seine Eltern würde warten müssen, vielleicht sogar zwei Wochen lang … Und ihm später erklären, dass es viel länger dauern würde, bis seine Eltern zurückkämen. Also befand der Familienrat nach einer langen, wütenden Diskussion und einer Abstimmung, bei der Edit dagegen stimmte, Tante Mara sich enthielt, und es so zu einem Ergebnis zwei gegen eine kam, die Großeltern sollten das Mädchen aufs Schändlichste belügen. (Auf Edit hatte der Zauberschnaps keinerlei Wirkung, weil auf sie überhaupt kein Schnaps Wirkung hatte, und Tante Mara trank nie.) Die andere Schwierigkeit bedeutete die Bibliothek. Die Bibliothek war neidisch und argwöhnisch, was man ja in Verbindung mit einer Reise an die Adria auch von jedem gesunden Kollektiv erwarten konnte, vor allem, wenn es der Sohn des Bibliotheksleiters war, der an die Adria reiste. Diesen Argwohn galt es zu zerstreuen. Die Bibliothek musste überzeugt werden, dass Iván nie im Leben daran denken würde, auszuwandern. Diese Aufgabe fiel in erster Linie Onkel Olbach zu, der auch nichts dagegen hatte. „Die Bibliothek könnt ihr ruhig mir überlassen, damit werde ich schon fertig“, sagte er, gleichzeitig kam ihm aber schon die Idee des Gottesurteils.
Der konkrete Plan sah so aus: Emma sollte sich am 20. August, dem Nationalfeiertag, mit ihren Eltern und Großeltern vom Donauufer aus das Feuerwerk ansehen und danach in der
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