Liebe Unbekannte (German Edition)
das menschliche Bewusstsein hinübergerettet werden sollte … Auch ich arbeite jetzt, im Jahr 2008, in dem ich diese Zeilen schreibe, an diesem Prozess, lebe davon. Eilen wir jedoch nicht so weit voraus, sondern bleiben lieber beim späten Nachmittag des 21. August 1969.
Der Zauberobstler hatte auf Ervin Gál genau die Wirkung wie jeder andere Schnaps. Er machte aus diesem feigen, linkischen Mann von zweiunddreißig Jahren, dessen Seele bereits den Weg der schnellen Fäulnis angetreten hatte, einen verwegenen Kerl. Er hatte erst den dritten Schluck aus dem Flachmann genommen, und schon warf er sich vor ein Auto, um Emma zu beeindrucken. Er hatte noch kein Kind und dachte daher, es würde ihr großen Spaß machen, ihm dabei zuzusehen, wie er vor dem mit überraschender Geschwindigkeit aus der Kurve schießenden Taxi mit zwei Sprüngen auf der anderen Seite der asphaltierten Waldstraße landete. Er würde drüben ankommen und Emma eine schöne lange Nase zeigen. Aber er kam nicht auf der anderen Seite an, sondern stürzte mitten auf der Straße. Das Taxi hielt mit jaulenden Bremsen wenige Zentimeter vor Ervin Gáls Kopf. Die Wasmachstduduwahnsinniger?-Rufe verstummten, es wurde still.
Es vergingen ungefähr zwei Sekunden, dann vollführte das Taxi ein seltsames Manöver: Es rollte zurück in die Kurve, aus der es gekommen war und verschwand innerhalb weniger Augenblicke zwischen den Bäumen. Das war überraschend, erschreckend, ja, nahezu überirdisch (als hätte jemand die Zeit zurückgedreht). Am ehesten erinnerte das Ganze dann aber doch an eine einfache Fahrerflucht, weshalb Onkel Olbach und Patai auf das Unheilvolle an diesem Ereignis gar nicht aufmerksam wurden. Genauer gesagt, wurden sie darauf aufmerksam, wie hätten sie es nicht werden sollen, ja, sie dachten sogar an das Gleiche, an den Übergang vom Fischezeitalter zum Wassermannzeitalter, was sie – als aufgeklärte Menschen – jedoch voreinander nie ausgesprochen hätten. Und – da sie zu den klügsten Menschen ihrer Epoche gehörten – wurden sie auch nicht jetzt auf den Wechsel der Weltzeitalter aufmerksam, sondern waren es schon wesentlich früher bei anderen Gelegenheiten geworden. Beide waren sich bereits seit geraumer Zeit darüber bewusst, dass ihr Leben in die Periode einer großen Epochenwende fiel, und in dieser bis aufs Letzte zermalmt würde. Kurz, diese Erkenntnis war beiden schon vor Längerem gekommen, weshalb ihnen jetzt der Beginn des Wassermannzeitalters gar nicht in den Sinn kam, und sie stattdessen auf ganz herkömmliche Weise die Mutter des Taxifahrers verfluchten, wodurch es Ervin Gál, der gerade im Begriff war, sich aufzurappeln, erspart blieb, ernsthaft zusammengestaucht zu werden.
Ganz so, als hätte er überhaupt keinen Schreck bekommen, fragte er Emma:
„Wer ist gestorben?“
Onkel Olbach und Patai halfen ihm, den Staub von seiner Kleidung zu entfernen. Emma kannte die blöde, alte Antwort auf Ervin Gáls blöde, alte Frage und deshalb antwortete sie, obwohl sie sich ziemlich erschrocken hatte, mit dem lustigen Lachen einer Fünfjährigen:
„Lajos Kossuth.“
Sie spazierten zu viert durch den Wald. Patai hatte sein Versprechen gehalten und war ohne Klárika gekommen, und Ervin Gál war wie eine Schmeißfliege einfach an ihnen hängengeblieben.
Bevor sie aufbrachen, erklärte Onkel Olbach Patai und Ervin Gál flüsternd, dass sie mit Emma heute über alles reden konnten, nur nicht über ihre Eltern. Beide nickten. Patai mit hämischem Grinsen und Ervin Gál mit einem Grinsen, das er Patai abgeschaut hatte. Die beiden gefielen Onkel Olbach überhaupt nicht, er war nicht glücklich darüber, sie neuerdings so oft zusammen zu sehen. Vor Patai hatte er ausgesprochen Angst, wegen Ervin Gál war ihm einfach nur übel, daher freute es ihn nicht, dass dieser unmögliche Kerl nun offenbar Patai als seinen Meister ansah. Genauso wie zuvor ihn. Oder wer weiß, weshalb er an ihnen hängen geblieben war … vielleicht war er ja an sie gehängt worden? Und vielleicht hatte es gar nicht Patai auf Onkel Olbachs Lebenswerk abgesehen, sondern Ervin Gál?
Trotz alledem fing der Ausflug gut an. Emma kannte beide aus der Bibliothek. Sie mochte sie auch. Patai spielte den reichen und Ervin Gál den lustigen Onkel. Sie liefen mit Emma Hand in Hand, immer abwechselnd, zumindest am Anfang.
Patai machte der Verkäuferin des Cafés an der Endstelle der Pioniereisenbahn auf dem Széchenyi-Berg drei barocke Komplimente, wovon diese sogleich
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