Liebe Unbekannte (German Edition)
eigentlich sei, was aus ihr hätte werden können und was sie schließlich geworden war: die Bibliothekarin von Nyék, die dem gebildeten Westen drei schöne Jungen geschenkt hatte. Sie fragte sich, ob das so gut war. Ob nicht vielleicht das Leben von ihr und Endre mit einem Fluch belegt war?
Den Begriff
Fluch
verstand sie natürlich im wissenschaftlichen Sinne, im akademischen Historikerjargon der zwanziger Jahre. Und natürlich im übertragenen Sinn. Und gewissermaßen aus Freudscher Sicht.
Natürlich vergaß sie darüber hinaus nicht den Ausgangsgedanken, der sich auf das Brechen eines Fluchs bezog. Als Erstes erzählte sie Emma
Dornröschen
, mit besonderem Augenmerk auf den Fluch am Anfang des Märchens. Die Zauberei oder sogenannte Magie sei eine ernst zu nehmende Sache. Beinah eine Wissenschaft. Deshalb könne man sie nur mit wissenschaftlichen Methoden bekämpfen.
„Deshalb werden wir
Dornröschen
heute wissenschaftlich erzählen, gut?“, sagte sie als Einleitung zu Emma, die
Dornröschen
natürlich schon kannte.
Und Tante Mara sprach wissenschaftlich über Zauberei. Sie sagte, Emma solle mal darauf achten, dass es in Märchen immer zwei Arten von Feen gebe. Die guten und die bösen.
„Ich weiß, dass du das längst weißt, trotzdem müssen wir das am Anfang festlegen, denn das ist ein sogenanntes Axiom.“
„Hör mal, Mara, was für Wörter verwendest du denn?“, unterbrach sie Onkel Olbach, woraufhin ihm Tante Mara einen Blick zuwarf, nach dem er sich lange nichts zu sagen traute. Denn Onkel Olbach war in den vergangenen Jahrzehnten ein wenig mit der Rolle des Patriarchen verschmolzen und hatte fast schon vergessen, dass seine Frau und er auch das geistige Leben einst gemeinsam in Angriff genommen hatten, gemeinsam etwas Großes hatten erschaffen wollen. Den Begriff
Axiom
zum Beispiel gönnte er ihr einfach nicht.
„Eine Fee ist auch eine Hexe, nur eben eine gute. Verstehst du?“
„Ich weiß“, sagte Emma.
„Gut, dann mach du weiter. Kannst du das? Eine Hexe ist …“
„Eine Hexe ist auch eine Fee, nur eine böse.“
„Du bist klug. Also: Dornröschen wurde von einer bösen Fee mit einem Fluch belegt. Die Frage ist: Was können wir gegen diesen Fluch tun? Wissenschaftlich. Erinnerst du dich? Konnte die gute Fee in
Dornröschen
den Fluch brechen?“
„Nein.“
„Stimmt. Ein Fluch ist eine ernsthafte Angelegenheit. Wir können ihn nicht einfach, Simsalabim, ungeschehen machen. Die gute Fee konnte den Fluch nur abmildern. In was hat sie den Fluch gleich nochmal verwandelt?“
„Hundert Jahre Schlaf.“
„So ist es. Hundert Jahre Schlaf. Hat sie Dornröschen damit retten können?“
„Nein.“
„Nein?“, fragte Tante Mara überrascht.
„Nur ihr Leben“, sagte Emma. Diese gescheite Antwort erhielt Einzug in den Familienanekdotenschatz, und irgendwann erfuhr sogar ich davon.
Die Großeltern sahen sich an.
„Ja, da hast du recht. Jetzt verrate ich dir ein großes Geheimnis: Ich bin eine Bibliothekskräuterfrau. Was glaubst du, ist das eine gute Fee oder eine böse?“
„Eine gute.“
„Leider nicht alle. In den Bibliotheken gibt es auch Hexen. Aber ich bin eine gute Fee. Weißt du, eine Bibliothekskräuterfrau muss, ganz egal, ob sie auf der guten oder bösen Seite steht, sehr viel wissen. Aber das ist kein Männerwissen, sondern ein Frauenwissen. Die Männer lesen alles Mögliche und basteln sich dann daraus irgendetwas zusammen. Aber eine Bibliothekskräuterfrau ist ganz anders. Sie liest natürlich auch, liest sehr viel, ihr geht es aber nicht darum, sich aus dem Gelesenen etwas Neues auszudenken, sondern darum, mit den Büchern zu heilen … denn es verhält sich nämlich nicht so, wie es die Humanisten so lautstark behaupten …“
Tante Mara verstummte, weil ihr auffiel, dass sie bereits zu ihrem Mann sprach. Sie warf ihm einen strengen Blick zu, als hätte dieser etwas gesagt. Dann wandte sie sich wieder an Emma:
„Es ist nämlich nicht so, dass man alles lesen kann, Hauptsache es ist ein Buch. Es gab viele dumme Leute, die dachten, es reiche, wenn man lese und dann werde schon nichts Schlimmes passieren. Weißt du, Emma, Bücher und Gedanken, ja, sogar Gedichte haben ihre eigene gute oder schlechte Wirkung, genauso wie Kräuter. Natürlich sind alle Kräuter Kräuter, und möglicherweise ist manches giftige Kraut sogar schöner als die nicht giftigen. Aber wir Kräuterfrauen müssen wissen, welches Kraut wofür gut ist und vor welchem man sich in Acht
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