Liebe Unbekannte (German Edition)
nichts mit ihr geschah, dann darüber, alles könne und solle zum Gegenstand des Tagebuchs werden. Und er werde ihr auch vieles erzählen, zum Beispiel über das Leben in der Bibliothek.
Im Herbst 1969 schrieb Tante Mara bereits seit beinah vierzig Jahren Tagebuch und tatsächlich über alles. Sie hatte sich damals ins Tagebuchschreiben gestürzt und daran hatte sich seitdem nichts geändert: Jeden Tag tippte sie ein Blatt auf beiden Seiten mit kleinstmöglichem Zeilenabstand voll. Sie machte auch einen Durchschlag, dieser war jedoch fast unleserlich, da sie beim durchscheinenden Kopierpapier auch beide Seiten verwendete.
„Oma.“
„Ja?“
„Du erzählst genauso wie Onkel Patai.“
„Na, siehst du“, sagte Onkel Olbach triumphierend.
„Aber du auch, Opa.“
Die Großeltern sahen sich an.
„Onkel Patai hat Angst, deshalb versucht er, andere zu erschrecken. Er hat große Angst.“
Emma beruhigte es überhaupt nicht, dass Patai Angst hatte. Es hätte sie wahrscheinlich auch nicht ganz beruhigt, wenn wenigstens er keine Angst gehabt hätte, das hätte auch etwas Gruseliges an sich gehabt, aber, dass sogar er Angst hatte, war nun wirklich erschreckend.
„Vor wem hat er Angst?“
„Eher wovor.“
„Wovor?“
„Das erzähle ich dir irgendwann einmal“, sagte die Großmutter ausweichend, da sie selbst nicht wusste, wovor Patai Angst hatte, aber sie hatte die starke Vermutung, dass jemand, der Kindern einen Schrecken einjagt, sich am meisten vor dem Tod fürchtet, und sie wollte Emma wenigstens diese Information ersparen. „Solche Menschen haben am meisten Angst. Die, die kein reines Gewissen haben.“
„Mara, zeig mir einen Menschen mit reinem Gewissen“, sagte Onkel Olbach.
„Hat Onkel Ervin auch Angst?“
„Na, und ob!“
„Und ihr auch?“
„Alle haben Angst“, sagte die Großmutter. „Vor irgendetwas hat jeder Angst.“
„Nicht alle“, sagte Emma.
„Hast du keine Angst?“
„Doch, ich schon.“
„Wer hat dann keine Angst? Hm?“
„Weiß ich nicht.“
„Und warum sind wir so wie Onkel Patai?“, fragte Onkel Olbach.
„Weil ihr auch nicht gerne Angst habt.“
„Und hast du gerne Angst, Emma?“
„Nein“, sagte Emma der Wahrheit entsprechend, und mehr konnte man ihr nicht entlocken. Dabei hatte sie gerne Angst, und auch das entsprach der Wahrheit.
Nachdem Emma ihr erstes Kind bekommen hatte, setzte sie sich in den Garten und dachte an diese Zeiten. Daran, was mit all diesen Menschen geschehen war, der Großmutter, dem Großvater, Patai, ja, sogar Ervin Gál. Sie hatten einander nicht gemocht, vielleicht sogar gehasst, aber das Leben jedes Einzelnen von ihnen hatte dazu beitragen sollen, dass sie, Emma und ihr Kind, eines Tages hier in diesem Garten glücklich werden sollten. Die Armen, dachte Emma, sie sind wie Namen auf einer Darstellerliste. Die Darstellerliste meines Glücks.
Und sie schämte sich dafür, trotzdem nicht glücklich zu sein. Zum Glück kannte man da den Zauberbegriff
postnatale Depression
schon. Diese negative Kraft war es, die in Emma ihr Unwesen trieb, ebenso wie damals in ihrer Großmutter, die diese nur noch nicht hatte benennen können. Davon abgesehen gab es lediglich einen einzigen Unterschied in ihrer Situation: Wenn Emma heute mit dem Kind fortgegangen wäre, hätte nicht die Gendarmerie, sondern die Polizei sie gefunden.
Eines Tages klingelte es an der Tür. Es war Edit Perbáli. Sie war im allerletzten Augenblick, in dem sie dies, gemäß dem entsprechenden Erlass des Präsidialrates, noch ungestraft hatte tun können (innerhalb von zwei Monaten), aus Italien zurückgekommen. Sie klingelte bei den Olbachs und nahm Emma mit.
Otília hatte ihr noch draußen, auf dem Hof, zugeraunt, sie solle mit den beiden Alten aufpassen, sie hätten Emma von der Schule abgemeldet, in ihrem Kopf sei nicht mehr alles ganz richtig, all dies sage sie jedoch aus reinster Sorge.
„Danke, Sie müssen sich nicht um uns sorgen“, antwortete Emmas Mutter kühl. Sie war stets für Aufrichtigkeit. Die Olbachs kannten diese Seite an ihr gut, und schon deshalb und auch, damit sie es nicht von jemand anderem, wie zum Beispiel Otília, erfuhr, erzählten sie ihr alles ganz ehrlich, vom Anfang bis zum Ende, vom Waldspaziergang, der Krankheit, der Schule. Edit bedankte sich in eisigem Ton für die Ehrlichkeit, und nach einer kurzen Auseinandersetzung tat sie das, was sie schon seit Langem hatte tun wollen: Sie nannte ihren Schwiegervater einen alten Kollaborateur.
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