Liebe Unbekannte (German Edition)
ihr ins Gespräch kommen, was an sich nicht ungewöhnlich wäre, schließlich hatte man ihr in der Schule sowieso die Klasse der Minderbemittelten aufgedrückt, in die auch Otílias beschränktes Enkelkind ging. Aber Mutter war schrecklich aufgeregt. Sie wusste nicht, wie man locker mit jemandem ins Gespräch kam, erst recht nicht mit dieser Otília, die bestimmt eine durchtriebene Bäuerin war, am Ende schöpfte sie noch Verdacht. Aber Vater sah einfach keine andere Lösung, und daher sah Mutter auch keine. Sie sah dem Sonntag mit Grauen entgegen. Schließlich entkam sie jedoch dem Ganzen. Sie wurde vom Schulleiter gerettet, der sie am Samstagmorgen, vorm Unterricht, in sein Büro kommen ließ, und sie, als Neuling des Lehrerkollegiums, wohlwollend darauf aufmerksam machte, dass in Ungarn Religionsfreiheit herrsche, wodurch die Nyéker Lehrer ruhig die Messe in jeder beliebigen Kirche in Budapest besuchen könnten, wenn das nun einmal für ihr Wohlbefinden erforderlich sei, aus eben diesem Grund sei es jedoch für Mutter überhaupt nicht nötig, sich auch nur ein einziges Mal noch in der Kirche in Nyék sehen zu lassen. Also besuchten wir am Sonntag bereits die Messe bei den Franziskanern in Budapest, und Otílias Befragung fiel aus.
Aber Gott bewahre, dass ihr Euch wegen dieser Sache zu sehr zermürbt
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Lasst uns nun zu den fröhlicheren Themen übergehen. Wie bereits angedeutet, habe ich gute Nachrichten für Euch. Ja, ich würde sogar sagen, prächtige
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Wie ich Euch, als Irénke die Bemerkung über die Verhältnisse in Nyék hat fallen lassen, versprochen habe
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Mutter warf Vater einen überraschten Blick zu: Was hatte das zu bedeuten?
…
habe ich mit dem Schulleiter gesprochen. Stellt Euch vor: Er ist mir fast um den Hals gefallen! Was jetzt schon feststeht: Irénke hat ab nächstem Jahr eine Stelle als Schulleiterin in einem Dorf in der Nähe von Nyék sicher. Natürlich mit Dienstwohnung. Und István (so sieht es im Augenblick aus) wird den praktischen Unterricht übernehmen können. Das ist das, was ich im Moment weiß. Sobald ich mehr erfahre, schreibe ich es Euch per Post. Aber auf das bisherige (also die Stelle) könnt ihr jetzt schon Gift nehmen
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Jetzt habt ihr, als echte Budapester, bestimmt einen Schreck bekommen. Ans Ende der Welt ziehen … Aber gerade deshalb habe ich einen glänzenden Vorschlag: Kommt doch zu Besuch zu uns und lernt dieses „fürchterliche“ Landleben kennen. (So schlimm ist es gar nicht.) Besucht uns in den Winterferien
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Mutter wäre auch glücklich. Von mir ganz zu schweigen. Der Armen würde etwas Abwechslung guttun. (Es hat sich herausgestellt, dass von den Alten, die sie gekannt hatte, niemand mehr lebt.) Aber nicht, dass die Kinder glauben, das hier sei nur etwas für alte Leute. Wir haben einen Fernseher und einen Plattenspieler. Man kann große Ausflüge machen, und die Kinder könnten rodeln. Es gibt auch Hügel
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Ich habe Mutter erzählt, wie gut wir uns am letzten Abend verstanden haben. Da hat sie sich auf den Oberschenkel geschlagen und gesagt: Na, endlich sind ordentliche Leute nach Nyék gezogen. Sie gratuliert Irénke, unbekannterweise, weil sie, durch ihre aufopfernde Art euch zu pflegen, bewiesen hat, was für eine „heldenhafte“ Frau sie ist. Ihr fiel auch gleich ein, dass wir irgendwo in der Tiefebene auch Verwandte haben, die Krizsán heißen. Das soll ich Euch unbedingt schreiben. Dieses Paar Handschuhe schickt sie für Irénke. Sie hat sie selbst gehäkelt
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Für Euch war das sicherlich nur ein gewöhnlicher Abend, aber bei mir sieht es leider anders aus. Meine Familie ist meine Mutter (nicht, dass ihr mich falsch versteht, wir haben einander sehr gern). Für mich ist so eine Unterhaltung im Kreis der Familie das Paradies auf Erden. Und wie gut wir danach schweigen konnten. Selbst Schweigen ist mit István anders als zu Hause, allein. Ich hatte irgendwie das Gefühl, wir verstehen uns auch ohne Worte. Also, wie soll ich es sagen oder schreiben: Ich habe mich gefühlt, als wäre ich in dem Gedicht „Familienkreis“ von János Arany
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Ihr werdet hier alle bequem schlafen können. Es gibt genügend Platz. Wir haben sogar ein Gästezimmer. Vom Fenster aus sieht man den Brunnen. Die Leute aus dem Dorf sagen, István Csók habe ein Gemälde gemalt, dessen Motiv dieser Brunnen ist. (Es kann natürlich sein, dass man sich das nur so erzählt.) Aber ihr werdet ihn ja sehen. Bis dahin grüße ich Euch aus tiefstem Herzen und freue mich schon
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