Liebe Unbekannte (German Edition)
deshalb nicht aus dem Haus. Deshalb sehe sie niemand. Aber, Gott sei Dank, fehle ihr nichts, man würde sie auf Rosen betten. (Etwas leiser:) Herr Olbach gehe nur noch dreimal in der Woche in die Bibliothek, (flüsternd:) Die beiden seien völlig übergeschnappt, sie würden dieses Mädchen vollkommen verziehen, noch mehr als ihre eigenen drei geistesgestörten Söhne.
All das wäre jedoch zu wenig gewesen, um das Flachland zu beruhigen, dafür musste dieses Emma schon mit eigenen Augen sehen. Dazu kam es dann Anfang Oktober.
Aber ganz ohne Grundlage waren die Gerüchte nicht.
Noch im August war Emma, nachdem sie einige Tage gelegen hatte, aus dem Krankenbett aufgestanden und Otília, die auf sie aufpassen sollte, ließ sie in den Garten gehen, sie war der Meinung, Emma könne ruhig wieder ein bisschen draußen herumrennen. Doch kaum war sie draußen, erblickte sie Griega, die am Tor rüttelte und ihr etwas zurief. Es war die verrückte Frau, die Emma, zusammen mit dem verrückten Mann, schon öfters in der Bibliotheksmensa gesehen hatte, und über die ihr Großvater gesagt hatte, sie müsse sich nicht vor ihnen fürchten, sie seien harmlos. Sie besuchten nur die Mensa der Bibliothek. Außerdem lebten sie auch in Nyék. Das stimmte alles. Onkel Olbach hatte beim Stadtrat von Nyék erwirkt, dass die beiden eine Notwohnung erhielten. Emma beschäftigte sich dann auch nicht weiter mit ihnen, bis zu diesem Tag. Denn jetzt stand die verrückte Frau vorm Tor – Emma wusste, es konnte niemand anderes sein als Griega – und rief ihr etwas zu. Sie fragte, ob irgendjemand bei ihnen sei, Emma verstand nicht wer, aber wen sonst hätte sie schon meinen können als Pryzk. Schreiend rannte Emma zurück ins Haus. Als Tante Mara am Nachmittag nach Hause kam, fand sie statt Emma ein zitterndes kleines Etwas, das seiner Großmutter erst nach langem Nachfragen erzählte, wen es gesehen hatte.
Obgleich Emma später auch geschickt zu lügen lernte, war sie von aufrichtiger Natur. Nachdem Griega bei ihnen aufgetaucht war, erzählte sie ihrer Großmutter also, wovor genau sie sich fürchtete. Sie behielt es nicht für sich. Sie wollte sich nicht fürchten. Sie erzählte ihr auch Patais Geschichte, von der Onkel Olbach nur eine stark zensierte Kurzfassung wiedergegeben hatte. Und so konnte Tante Mara Emma beruhigen, dass es Pryzk und Griega in Wirklichkeit nicht gäbe, und vor dem Tor nur die verrückte Frau gestanden habe.
Aber ganz zufrieden gab sich Emma damit nicht. Sie fragte ihre Großmutter mit ernster Stimme, ob sie wirklich auf dem Grund der Donau wohnten, denn ihr Vater habe ihr das einmal erzählt. „Schau, mein Mädchen“, antwortete Tante Mara, „in gewissem Sinne schon. Das hier, wo wir wohnen, ist das natürliche Überschwemmungsgebiet der Donau.“ Emma nickte und frage, wo Mähren liege. Ihre Großmutter ahnte nichts Gutes und erwiderte, es sei weit weg. Und sie habe zu Hause keine Landkarte, auf der sie ihr es zeigen könne. „Meinst du nicht Jugo slawien?“ „Nein. Und die Donau, fließt die durch Mähren?“ „Nein“, log Tante Mara, da sie jetzt bereits ahnte, was sich Emma in den Kopf gesetzt hatte. Und es gelang ihr auch, sie ein wenig zu beruhigen, da zum Glück offenbar auch Endre das Gleiche gesagt hatte, Mähren liege weit weg und die Donau, die Pryzk hätte herbringen können, fließe nicht dort entlang. Das mit der Donau stimmte ja sogar mehr oder weniger, wenn man davon absah, dass Mährens Hauptfluss, die March, in die Donau mündete. Das änderte aber nichts daran, dass sich Onkel Olbach an diesem Abend einiges von Tante Mara anhören durfte.
Nach alledem war es kein Wunder, dass Emma sich den ganzen September über nicht aus dem Haus traute, Onkel Olbach sie von der Schule abmeldete und Tante Mara ihr den ganzen Monat lang Geschichten erzählte.
Ich hätte nie gedacht
, schrieb Tante Mara in ihr Tagebuch,
dass ich in meinem Alter, im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, einen Fluch brechen würde. Aber was soll ich machen, wenn nun einmal das Märchen dieses Irren ein wahrhaftig selbsterfüllender Fluch ist
…
Mit dem Irren meinte sie Patai. Tante Mara saß montags, mittwochs und freitags von zwei bis sechs in der Stadtbibliothek von Nyék und schrieb Tagebuch. Und jetzt dachte sie hier über das Brechen eines Fluchs nach, vom Fluch kam sie auf die Anthropologie, das erinnerte sie an James G. Frazer und andere angelsächsische Forscher, und schließlich landete sie bei der Frage, wer sie
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