Liebe Unbekannte (German Edition)
auf Euren Besuch
.
Attila Álmos (Morvai)
Der Tonfall des Briefes bestätigte Vaters Verdacht. Der Arzt war nur ein paar Mal unter normalen Umständen, sprich, als gerade niemand aus der Familie sterbenskrank war, bei uns gewesen. Der Arme hatte sich also entweder wirklich in Mutter verliebt oder in unsere ganze Familie. Letztere Version besprach Vater mit Onkel Lajos und gemeinsam überlegten sie sich Folgendes: Welches Krankenhaus schickt schon am Sonntag einen Patienten, zumal ohne ärztliche Begleitung, mit dem Krankenwagen in eine andere Stadt? Hier war irgendetwas faul, die ganze Sache war völliger Nonsens, diese Briefzustellung per Krankenwagen musste Morvais Privataktion gewesen sein. Die Frage war nur, was seine Motivation gewesen war. Dass es Liebe war, ahnten sie natürlich beide, aber das auszusprechen wäre unmännlich gewesen. Und hätte von außerordentlicher Naivität gezeugt.
16. September 1969
Bonyhád
Wir beantworteten den Brief nicht. Morvai war ein rundlicher, stiller Mann. Als er bei uns war, hatte er kaum ein Wort gesagt. Vater und Mutter hätten nicht gedacht, dass er einen Brief schreiben würde, und schon gar nicht so einen. Einen so direkten. Und sie kamen nicht drauf, was er wohl falsch verstanden haben mochte, denn wir wollten nicht aufs Land ziehen. Bald schrieb er uns die Einzelheiten in einem anderen Brief, den er per Post schickte. Später schrieb er noch einen, in dem er sich zaghaft erkundigte, wie es uns ging. Und ob wir sie im Sommer nicht besuchen würden. Er erwähnte wieder den Brunnen, den István Csók verewigt hatte. Den man aus dem Fenster des Gästezimmers sehen konnte. Zwei Jahre später, nach dem Tod seiner Mutter, schickte er noch eine Todesanzeige. Danach ließ er nie wieder von sich hören.
Wir bereuten, ihm nicht einmal geantwortet zu haben. Dabei planten wir jahrelang ernsthaft ein Wochenende in Bonyhád. Wenn ich auf der Landkarte diesen Namen lese, Bonyhád, kommen mir heute noch die Tränen: Es gab einmal jemanden, namentlich einen Zahnarzt, der uns gegenüber so viel Vertrauen empfand, dass er seinen Nachnamen in Klammern setzte und den Ortsnamen Bonyhád zaghaft ans Ende seines Briefes schrieb. So, wie er es in der Schule gelernt hatte. Gerda stellte sich vor, wie lange er wohl darüber nachgedacht haben mochte, ob er Bonyhád am Ende noch einmal hinschreiben sollte oder ob das eine Wortwiederholung sei. Schließlich schrieb er es hin, denn so stand das Wort Bonyhád ganz unten, wie ein Siegel, das die Welt bestätigte, in dessen Mitte er, Morvai, mit seiner Mutter wohnte und unseren Besuch in den Winterferien erwartete. Bonyhád, Bonyhád, tönt es in meinem Kopf, und mir wird ganz schwer ums Herz, Bonyhád, mein Gott, Bonyhád.
„Bonyhád“, sagte Gerda und weinte fast.
„Booonyhád“, sagte ich mit einer verzerrten tiefen Stimme, die wie von einer zu langsam abgespielten Kassette klingen sollte. Alles, bloß nicht anfangen zu heulen.
„Idiot“, sagte Erika.
„Bonyhád“, sagte ich später einmal zu ihr. „Weißt du noch?“
„Bitte, nur das nicht“, bat sie mich und drehte sich weg, weil ihr die Tränen in den Augen standen. „Wir haben sogar ein Gästezimmer.“
„Sei still“, sagte Gerda. „Vom Fenster aus sieht man den Brunnen.“
Und sie weinte auch. Mehrmals im Laufe der Jahre.
Das war nicht das letzte Mal, dass jemand in unserer Familie seinen rettenden Engel sah. Und auch nicht das erste Mal. Selbst Onkel Lajos kam öfters auf dieses Phänomen zu sprechen. Dass wildfremde Menschen ihn nicht selten als ihre letzte Rettung betrachteten. Tante Judits Version davon lautete, jeder Pechvogel kralle sich an ihnen fest, und auch darin steckte ein Fünkchen Wahrheit.
Übrigens war das Ganze schließlich nicht so schlimm, wie es zunächst schien, und daher war es vielleicht auch besser, dass wir den Zahnarzt nicht über die Entwicklungen informierten, damit hätten wir ihn nur unnötig beunruhigt. Schließlich wurden weder er noch die Olbachs angezeigt, denn Otília kam zur Räson und nahm alle Gerüchte über Emmas Tod zurück, soweit es möglich ist, ein Gerücht zurückzunehmen. Sie versuchte alles, was in ihrer Macht stand und erzählte jedem (halblaut) im Laden, nach der Messe, ja, sie stellte sich deshalb sogar extra abends ins Gartentor, dass die kleine Emma lebe, es ihr ausgezeichnet gehe, wer habe denn überhaupt diesen Blödsinn in die Welt gesetzt, ihre Großeltern seien einfach nur um sie besorgt und ließen sie
Weitere Kostenlose Bücher