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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: István Kemény
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nehmen muss. Und das reicht noch nicht, denn wir müssen auch die Menschen kennen. Denn die Menschen sind auch nicht gleich. Was für den einen ein Heilmittel ist, kann für den anderen Gift sein. Und andersherum ebenso. Eine Bibliothekskräuterfrau hat die gleichen Aufgaben mit den Büchern und den Menschen. Denn das Buch, das den einen heilt, kann den anderen vergiften. Und jenen Menschen, für den dieses Buch Gift ist, muss man von dem Buch fernhalten.“
    „Aha“, sagte Onkel Olbach halblaut aus der Ecke.
    „So ist es, Endre“, sagte Tante Mara und fuhr dann das Wort an Emma gerichtet fort: „Und du musst wissen, es gibt Bücher, die für jeden eine tödliche Gefahr bedeuten. Diese zu lesen muss man allen verbieten.“
    „Ähm“, widersprach ihr Onkel Olbach.
    Dabei vertraten sie in dieser Hinsicht mehr oder weniger die gleiche Meinung. Sie hatten schon vor Langem besprochen, was sie bei der Erziehung ihrer Söhne falsch gemacht hatten: Sie ließen sie frei in Nyék herumlaufen und lesen, wozu sie Lust hatten. Sie glaubten an den natürlichen Wissensdrang. Der natürliche Wissensdrang führte die Jungen jedoch nicht zu den Büchern, sondern zum reichen Westen. Manchmal sagten sie traurig, sie hätten wenigstens aus einem ihrer Söhne einen Schafhirten machen und diesem nicht einmal das Lesen beibringen sollen, dann wäre er nicht fortgegangen. Aber die Aussage, manche Bücher müsse man allen verbieten, brachte Onkel Olbach dann doch auf.
    „Gib zu, dass du sogar Bücher verbrennen würdest.“
    „Ja, Endre, das würde ich, glaub mir, das würde ich.“
    Onkel Olbach hätte selbst Bücher verbrannt, denn er wusste nur zu gut, dass manche Bücher einfach auf den Scheiterhaufen gehörten. Es war schon vorgekommen, dass er das gesagt hatte, und Mara ihn dann, von heiligem Entsetzen ergriffen, anfuhr. Diesmal war jedoch Mara die Inquisitorin.
    „Nenne die Titel“, sagte Onkel Olbach streng.
    „Sei nicht geschmacklos. Es gibt böse Bücher. Ja, die gibt es. Aber wenn es dich interessiert, kannst du ja in meinem Tagebuch nachlesen. Da stehen alle drin. Mit Titel und Autorenangabe. Na, Emma, dann habe ich noch eine Frage an dich …“
    Tante Mara wollte gerne, dass Onkel Olbach ihre Tagebücher las. Aber er schaute in keines jemals hinein.
    Den gesamten September über unterhielten sich Emma und ihre Großmutter über die Aufgaben einer Bibliothekskräuterfrau. Darüber, welches Buch gegen welches Leiden half, und wie viel man von welchem lesen durfte. Der guten Fee bei
Dornröschen
gleich, konnte Tante Mara die Kraft von Patais Fluch zwar nicht brechen, aber abmildern.
    „In einen hundertjährigen Schlaf, na vielen Dank“, sagte Onkel Olbach mürrisch. „Schreib Märchen, Mara. Schreib Märchen.“
    „Was hast du gegen Märchen?“
    „Ich habe überhaupt nichts gegen Märchen.“
    „Warum willst du dann, dass ich Märchen schreibe?“
    „Weil du welche schreiben könntest.“
    „Aber wenn du willst, dass ich Märchen schreibe, heißt das, dass du nicht viel von ihnen hältst.“
    „Du bist diejenige, die nicht viel von sich hält“, sagte Onkel Olbach eine Spur zu energisch. Niemals hätte er sich eingestanden, dass seine Frau unter anderem deshalb nicht viel von sich hielt, weil er sie nicht als geistigen Partner ansah.
    „Das stimmt“, gab Tante Mara zu, vielleicht gerade zum tausendsten Mal. „Und das werde ich wohl auch nicht mehr.“
    „Ich bitte dich inständig, raff dich auf und arbeite.“
    „Es ist zu spät, Endre“, erwiderte Tante Mara. „Es ist einfach zu spät.“
    Mara hatte sich nach ihrer ersten Geburt mit dem Kind (Kálmán, der sich später in Livorno niederließ) in den Garten gesetzt und Onkel Olbach mitgeteilt, sie werde nie wieder ein Buch in die Hand nehmen, da sich nun herausgestellt habe, dass sie auch nur eine Frau sei. Leider, basta, pfui. Da dies bei ihr be deutete, dass sie ihr wissenschaftliches Lebenswerk als endgültig abgeschlossen und unvollbracht betrachtete, musste Onkel Olbach ihr wiederum mitteilen, er werde ihr den Hintern versohlen, weil er schließlich auch nur ein Mann sei. Er meinte es nicht ernst, aber Mara ging in der Nacht mit Kálmán weg und streifte zwei Tage lang durch die Auwälder der Donau. Schließlich wurden die beiden von der Gendarmerie gefunden. Da wurde Onkel Olbach der Ernst der Lage klar, und um Mara davor zu bewahren, völlig durchzudrehen, sagte er, sie solle doch Tagebuch führen: Wenn sie depressiv war, dann darüber, wenn

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