Liebe Unbekannte (German Edition)
Ungarn? Bravo, das ist eine unverschämt einfache Antwort. Liebe Hörer, Ihr Kollege hat sich bereits zum zweiten Mal getraut, etwas zu sagen, und auch diesmal war es kein Blödsinn. In gewisser Hinsicht kann man zweckmäßig vereinfacht tatsächlich sagen, Sie leben in Ungarn. Wer sagt etwas anderes? Kollegin? Sagen Sie, was Ihnen einfällt. Budapest? Gut. Sie leben in Budapest? Das ist schon eine bessere Annäherung an die Frage. Eine Stadt ist immerhin – ein Ort. Eine organische Einheit. Sie ist von weniger leerem Pathos erfüllt als ein Land. Dennoch frage ich Sie ein drittes Mal: Wo leben Sie? Nun, wenn keine Antwort kommt, und sogar der Kollege Halász schweigt, werde ich Ihnen verraten, wo Sie leben: in Latmos, dem Ort des Vergessens. Notieren Sie es sich, mit schönen, großen Buchstaben: LATMOS. Es ist ein griechisches Wort, ohne H, mit einem S am Ende. Ich werde Ihnen etwas darüber erzählen.
Wir befinden uns auf griechischer Erde, in Kleinasien, der Landschaft Karien, es sind mythische Zeiten. In einer Höhle des Latmosgebirges schlief, was schlief – schläft! – ein junger Mann namens Endymion. Er hält einen ewigen Schlaf.
Seine Augen sind geöffnet. Er ist unsterblich. Er altert nicht. Er bleibt ewig jung, hat jedoch nicht viel davon, da er nicht bei Bewusstsein ist. Er hat keinen Traum. Und keinen blassen Schimmer, was mit ihm geschieht. Er liegt also da in der Höhle des Latmosgebirges, in die er zum Schlafen hinabgestiegen ist, wie die Sonne ins westliche Meer, um poetisch zu sein.
Es gibt mehrere Legenden über diesen Endymion. Nach der Meinung mancher soll er Ziegenhirt gewesen sein, nach der anderer, König. Zwischen diesen beiden Berufen gab es damals noch keine so strikte Trennung wie Sie heute denken würden. Wieder andere behaupten, Endymion sei die Sonne. Und zwar die untergehende. Von Zeus haben vielleicht sogar Sie schon mal gehört. Nach einigen waghalsigen Theorien ist Prometheus, dessen Stiefsohn, der aus einer von Heras flüchtigen Bekanntschaften geboren worden war, noch vor ihrer Zeit auf dem Olymp. Und einer von Prometheus’ Söhnen war Deukalion, der niemand anderes ist, als der griechische Noah. Der Sohn dieses griechischen Noahs war Aethlios, die ‚kämpfende‘ Sonne, und dessen Sohn ist unser Freund, Endymion, der noch immer sein ewiges Schläfchen hält, wie gerade vor sechzig Sekunden, als Sie zum ersten Mal von ihm gehört haben. Zeus ist also Endymions Ururgroßvater.
Wenn sich nun ein Sterblicher, sei er König oder Ziegenhirt, mit solchen Ahnen brüsten kann, wird er irgendwann vom Neid angestachelt: Weshalb bin ich eigentlich der einzige Sterbliche in der Familie? Kein Wunder, dass Endymion keine Lust hatte, alt zu werden. Stellen Sie sich das mal vor: Immer, wenn er zum Olymp hinauflinst, sieht er den Stiefururgroßvater da sitzen! Der Alte strotzt vor Gesundheit, neben ihm sitzt seine wunderschöne Ehefrau. Wären Sie an Endymions Stelle, würde auch Sie der Schlag treffen. Sie würden sich nach dem ewigen Leben sehnen.
Manche behaupten, Endymions Schlaf sei Zeus Strafe, weil unser Freund Endymion nicht nur das ewige Leben begehrte, sondern auch Hera, also seine eigene Ururgroßmutter. Er durfte sich eine Todesart auswählen und entschied sich für den Schlaf mit offenen Augen.
Es ist Geschmackssache, ob wir diesen Zustand als eine Art des ewigen Lebens oder des ewigen Todes betrachten. Worauf wir uns aber auf jeden Fall einigen können, ist, dass Endymion vor dreitausend Jahren genauso geschlafen hat, wie jetzt und genauso schlafen wird, wenn die … oh, ich traue mich gar nicht, es auszusprechen … wenn die Sprösslinge des Todes mit Ihren überdimensional großen Schädeln Fußball spielen werden. Und nicht nur mit den Ihren.“
Patai räusperte sich. Sein Publikum sah ihn peinlich berührt an, da seine Frau im Sterben lag. Alle dachten an Klárikas Schädel. Ich auch. Patais Vorlesung, die den Titel
Einführung ins philosophische Denken
trug, hatte mich, so wenig ich es mir auch eingestehen wollte, tatsächlich ins philosophische Denken eingeführt. Oder in irgendetwas, das am Ende sogar philosophisches Denken sein konnte.
„Latmos, das Land der Schatten, wo Endymion schläft“, fuhr Patai fort, „hat den gleichen Wortstamm wie Leto, also die Nacht, die die Sonne (Apollon) gebar. Und wie Lethe, der Fluss, der die Menschen ihre Vergangenheit vergessen lässt. Und Endymions Name bedeutet nach Károly Kerényis Auslegung:
jemand, der ‚innen
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