Liebe Unbekannte (German Edition)
ist‘, umwoben von seiner Geliebten, ‚wie in einem gemeinsamen Kleid‘
.“
Kurz gesagt, Patai hatte vom Grundprinzip von Vaters Zeitmaschine gesprochen. Darauf wollte ich aber jetzt nicht näher eingehen, um Vater nicht die Laune zu verderben.
Die konkrete Idee der Zeitmaschine lieferte ein Pullover, den Mutter ihm zu ihrem ersten gemeinsamen Weihnachten gestrickt hatte, der jedoch unsäglich ausleierte. Er wurde so groß, wuchs zu einer so märchenhaften Größe an, dass Mutter nie wieder eine Stricknadel in die Hand nahm. Sie hasste das Stricken für den Rest ihres Lebens – ja, jegliche Art von Handarbeit, aber vor allem diesen Pullover. Sie wollte ihn wegwerfen, zerschneiden, verbrennen, Vater ließ es jedoch nicht zu, da er Mutter liebte und ihretwegen sogar den Riesenpullover mochte, auch wenn er ihn nicht trug. Mutter glaubte jedoch nie so richtig, dass man sie lieben konnte, und wenn Vater behauptete, diesen Pullover zu mögen, dann sagte er bestimmt nicht die Wahrheit, weil man diesen Pullover nicht mögen konnte, und wenn Vater es trotzdem behauptete, konnte das nur bedeuten, dass er auch sie, Mutter, nicht wirklich liebte. Zehn Jahre lang schmiedete sie Rachepläne gegen den Pullover.
Dabei hatte sie einen beachtenswerten Pullover gestrickt, einen wirklich märchenhaften. Sie hatte ihn gar nicht gestrickt, sondern buchstäblich erschaffen. Das wurde der
Märchenpullover
, in dem Gerda, Erika und später ich Vaters oder Mutters Märchen lauschten. Es hatten gleichzeitig ein Erwachsener und zwei Kinder darin bequem Platz, und vor dem Waschen, wenn er sich so richtig schön ausgedehnt hatte, passte die ganze Familie hinein. Die Wirkungsweise des Pullovers bestand darin, dass für die Zeit des Erzählens eine gemeinsame Seele unter ihm entstand. Die Seele des Märchenerzählers verschmolz mit der der Märchenhörer so sehr, dass wir in dem Pullover manchmal gemeinsam einschliefen. Dann hatten wir ähnliche Träume.
Trotzdem konnte Mutter dem Pullover nie verzeihen. Kaum war die Zeit der Märchen endgültig vorbei, weil auch ich schon für mich las, war der Tag der Rache gekommen. Mutter warf den Pullover weg. Sie warf ihn in die Müllgrube und zog mit der Kleinhacke eine dicke Abfallschicht darauf. Aber vergebens: Gerda leitete aufgrund puren Verdachts ein Inquisitionsverfahren gegen Mutter ein, die unter den ständigen Beschuldigungen bald kapitulierte und uns zur Müllgrube führte. Und wir gruben den Pullover wieder aus und wuschen ihn eigenhändig. Danach fanden wir die Idee, ihn anzuziehen, jedoch nicht mehr so appetitlich. Dabei war nichts anderes geschehen, als dass wir groß geworden waren.
Patai und seine Vorlesung wollte ich nicht damit in Verbindung bringen. Das wäre so gewesen, als hätte ich Abfall auf unsere gemeinsame Erinnerung geworfen.
Außerdem befürchtete ich, nicht ohne eine gewisse Begeisterung über Patai reden zu können, denn im Grunde war ich in begeisterter Stimmung nach Hause gekommen. Und das hätte gerade noch gefehlt, dass ich Vater gegenüber anfing, mich für Patais Vorlesung zu begeistern.
Wo ich es doch selbst nicht verstand. Wieso gerade heute, wieso gerade für Patai, wieso gerade für dieses Thema?
Ich kann mir das Ganze bis heute nicht anders erklären, als dass letzen Endes, ab einem gewissen Alter, die meisten Männer anfangen, eine Zeitmaschine zu bauen, sich zumindest der Konstruktion ihrer eigenen Zeitmaschine widmen. Aber ich wusste damals noch nicht, was
ab einem gewissen Alter
oder
die meisten Männer
bedeutete, und ich baute auch noch keine Zeitmaschine. Im Gegenteil, wie jeder halbwegs gescheite junge Mann (denn das war ich, wenn auch vielleicht ein bisschen langsam) war ich vollkommen davon überzeugt, niemals in die Lage zu kommen, eine Zeitmaschine bauen zu müssen.
10.
DIE RACHE
„Ich habe einen alten Kumpel“, sagte Onkel Lajos ohne, dass ich ihn etwas gefragt hätte, wobei er mich jedoch misstrauisch betrachtete. „Genauer gesagt hatte ich einen. Eine äußerst düstere Gestalt. András Patai. Hat dein Vater dir nicht von ihm erzählt? Er kannte ihn nämlich auch. Sag nicht, er hat nichts von ihm erzählt, sonst verpasse ich dir einen Tritt in den Allerwertesten.“
Er verstummte und sah mich mit einem prüfenden Blick an, der sagen sollte, nun sei die Zeit für mein Geständnis gekommen. Offenbar war ihm der Verdacht gekommen, ich wolle den wahren Zweck meines Besuchs verheimlichen. Oder vielleicht verfolgten Vater und ich, mit
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