Liebe und andere Parasiten
zwanzig Jahren«, sagte Mike. »Sie kenne ich nicht. Sie müssen für sich selber sorgen, und ich muss auf ihn aufpassen. Deshalb muss ich fragen: Sie sind nicht auf Rache aus, oder?«
»Nein«, sagte Ritchie. »Das habe ich in meinen Briefen erklärt.«
»Sie wollen ihn nicht demütigen oder ihm noch mal den Prozess machen?«
»Nein.«
Mike ließ den Wagen an und fuhr los. »Norddublin. Bequem zum Flughafen«, sagte er und lachte. »Die Bewährungshelfer meinen, er ist ein Erfolg.«
»Tatsächlich?«
»Arbeitet im Gemeindezentrum, sorgt für seine alte Mutter, schreibt Gedichte. Sie meinen, er ist eine Erfolgsgeschichte, die Schwachköpfe.«
»Ist er nicht resozialisiert?«
»Na klar ist er sozialisiert. Er ist sozialisiert bis zum Gehtnichtmehr. Haben Sie seine Gedichte gelesen?«
»Noch nicht«, sagte Ritchie. Er hatte einen Blick hineingeworfen, aber sie hatten ihm nicht viel gesagt. Es war darin nirgends ums Menschentöten gegangen, soweit er sagen konnte; viel um Mütter und das Meer.
»Hier«, sagte Mike. Er öffnete das Handschuhfach, nahm ein dünnes Buch heraus und gab es Ritchie, der den braunen Einband erkannte, den Holzschnitt einer Möwe und den Titel, Ergebung . Aus dem Buch ragte ein Busfahrschein hervor. Ritchie schlug es an der markierten Stelle auf und sah ein Gedicht, das »Die Knarre« hieß.
»Colum meinte, Sie sollten das auf jeden Fall lesen, bevor Sie ihn treffen«, sagte Mike.
Die Knarre
Schwer in der Tasche, kalt erwärmt von der Hand
war sie auf dem Jahrmarkt bei mir.
Ich hatte sie zum Tee und Abendbrot dabei.
Nachts hatte sie keinen eigenen Platz,
wenn ich schlief, lag sie ihrerseits irgendwo
und schlief gut, vielen Dank.
Man konnte nicht sagen, dass sie schön war.
Doch gewiss, sie gehörte zu mir.
Sie verstecken lag mir so fern
wie sie wegwerfen.
Zwanzig Rothmans, und da
schrie die Frau an der Kasse:
»Heilige Mutter Gottes!
Lieber Herr Jesus,
Satan!
Der Junge hat eine Knarre!«
Ich floh aus McGinty’s News and Tobacco.
Der Himmel war bronzen.
Glockenbronze von Parnell Road bis Ballybough.
Der Himmel begann zu klingen.
Seither weiß ich immer, wo sie ist.
Kein Schlaf, kein Schlaf, die Knarre spritzt zum Himmel.
Ritchie klappte das Buch zu und legte es auf das Armaturenbrett. Sie waren vom Motorway abgebogen und fuhren durch eine Sozialbausiedlung.
»Was halten Sie davon?«, sagte Mike.
»Ich hab’s nicht verstanden«, sagte Ritchie.
»Dann sind wir schon zwei«, sagte Mike. »Wohlgemerkt, er ist stolz auf dieses Buch, also sagen Sie es ihm nicht.«
Sie parkten vor einer einstöckigen weißen Doppelhaushälfte. Mike stieg aus. Ritchie konnte sich nicht bewegen. Sein Herz hatte zu rasen begonnen, als der Wagen anhielt, und er war so entsetzt wie fassungslos, dass er sich vorsätzlich in diese Lage gebracht hatte. Erst jetzt, unmittelbar vor der Begegnung mit dem Mann, der seinen Vater getötet hatte, wurde ihm klar, dass er sie in der Vorstellung immer schon wie im fertigen Film gesehen hatte, wo O’Donabháin allein war und Ritchie die Kamera, den Cutter und das Publikum auf seiner Seite hatte. In diesen vorgestellten Begegnungen war alles, was Ritchie nicht gefiel, herausgeschnitten worden.
Bis zu diesem Moment war ihm der Tod seines Vaters wie etwas erschienen, das er, Ritchie, geerbt hatte. Jetzt erkannte er, dass dieser Tod immer noch seinem Vater gehörte, dass sein Vater sich den Besitz mit O’Donabháin teilte und dass Ritchie nicht einfach aufkreuzen und ihn dem Henker seines Vaters abnehmen konnte. Er, Ritchie, war nur der Sohn und Erbe; O’Donabháin war dabei gewesen.
Mike beugte sich herab und schaute ins Auto. »Das ist das Haus«, sagte er. »Sie werden erwartet.«
Ritchie stieg aus. Ob Mike merkte, dass er zitterte? Ein paar Jugendliche gegenüber beobachteten ihn und redeten und lachten.
Ritchie folgte Mike auf dem Plattenweg zu der Ornamentglastür und klingelte. Sie hörten das Tappen gedämpfter Schritte, hinter den Wirbeln im Glas erschien eine verschwommene Gestalt, und die Tür ging auf. O’Donabháins alte Mutter, einen Pullover mit V-Ausschnitt über dem Kleid, musterte Mike und Ritchie, trat an die Treppenseite zurück und deutete den Flur hinunter. Sie sollte mich dafür um Vergebung bitten, dass sie ein Monster zur Welt gebracht hat, dachte Ritchie, doch er sah nur Abscheu in ihrem Gesicht.
Colum O’Donabháin stand in dem niedrigen Wohnzimmer neben den Flammen eines künstlichen Kohlenfeuers vor einem blauen
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