Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Liebe und andere Parasiten

Liebe und andere Parasiten

Titel: Liebe und andere Parasiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Meek
Vom Netzwerk:
Bestraft.«
    »Ich habe nie begriffen, was das bedeutet, um ehrlich zu sein. Falls Sie ›erniedrigt‹ meinen – ich war bestraft, lange bevor ich eingebuchtet wurde. Dafür haben die Priester und die Royal Ulster Constabulary und die Zeit in Long Kesh gesorgt. Falls Sie meinen: ›Hat sich die Gesellschaft gerächt?‹ – ich kann nicht mehr im Norden leben. Ich bin mit siebenundzwanzig ins Gefängnis gekommen und mit zweiundfünfzig raus. Andererseits gibt es Leute, für die ein kleines Zimmer mit einem Bett drin, einem Fernseher und einem Pott zum Pissen der Himmel wäre.«
    »Das habe ich nicht gemeint«, sagte Ritchie.
    O’Donabháin blickte ins Feuer und wartete. »Sie meinen Reue«, sagte er.
    Ritchie sagte nichts.
    O’Donabháin sah Ritchie in die Augen. »Ich habe für eine Sache gekämpft. An die glaube ich immer noch. Ans Kämpfen weniger. Ihr Vater und ich, wir waren damals Soldaten.«
    »Er war Soldat. Sie waren ein Folterknecht.«
    »Die hatten eure Jungs auch. Ich war bloß ein Amateur.« Er neigte den Kopf ein wenig, und was Ritchie in dem Moment in O’Donabháin erspähte, war weder der anfängliche Trotz noch die Zerknirschung, die er erwartet hatte. Die Flut des Hasses, die ihn überspült hatte, ebbte ab.
    »Ich war wütend auf Ihren Vater«, sagte O’Donabháin mit lauterer Stimme, als ob er immer noch wütend wäre. »Dass er den verdammten Helden spielen musste, nur um ein Stück Scheiße zu schützen, das unsere Zelle in Derry verpfiffen hatte und uns ohne Bedenken zwei Wochen später zwei britische Polizisten ans Messer lieferte. Der spielte beide Seiten gegeneinander aus, und das wussten wir und Captain Shepherd auch. Der Dreckskerl, dessen Namen er uns nicht geben wollte, war es nicht wert. Es war, als wollte ich Ihrem Vater helfen, und er ließ es nicht zu. Kennen Sie das, wenn man manchmal an etwas zieht und es löst sich nicht, und Sie werden irre und schlagen um sich und hauen alles kaputt? Es war eine Operation. Ich wollte aus jemand die Wahrheit rausholen, und es war, als wollte ich einen Zahn ziehen, und er kam nicht raus. Ich vergaß, dass ich es mit einem Menschen zu tun hatte.«
    Ritchie beugte sich vor, mit beiden Händen den Rand des Sofapolsters knetend.
    »Wir waren noch nicht so weit, wir drei. Wir waren auf keiner Ebene so weit. Keiner von uns hatte je zuvor ein Verhör geführt. Keiner von uns war je zuvor einem wie Ihrem Vater begegnet. Wo würden drei irische Taigs je an einem Tisch mit einem feinen englischen Pinkel sitzen, der auf einer Privatschule und in Cambridge gewesen war?«
    »Oxford«, sagte Ritchie. Sein Mund war trocken.
    O’Donabháin holte tief Atem. »Was ich sagen will, ist, wenn wir ihn nicht entführt hätten, wären wir ihm sozial nie begegnet.«
    »Haben Sie deswegen Albträume?«, sagte Ritchie.
    »Nein. Das ist nicht die Antwort, die Sie haben wollten, nicht wahr?« O’Donabháin verschränkte die Arme und blickte zur Decke, dann beugte er sich zu Ritchie vor und sprach wieder leise.
    »Bevor wir ihn schnappten, als ich schon wusste, was wir vorhatten, lieh mir jemand einen Film auf Kassette. Es war ein französischer Film über die Résistance – Armee im Schatten, kennen Sie den? Da gibt’s eine Szene drin, wo die von der Résistance, einer von denen hat die andern verpfiffen, wo sie den in ein Haus bringen, und sie müssen ihn ausschalten. Aber keiner von ihnen hat so etwas je getan. Sie diskutieren die Sache vor dem Mann, den sie gleich kaltmachen werden, und er muss dasitzen und sich das anhören.« O’Donabháin packte die Sessellehnen und schüttelte den Kopf. Kamen ihm Tränen? Ritchie konnte es nicht erkennen.
    »Das war vor fünfundzwanzig Jahren«, sagte O’Donabháin. »Der Mann, der ich damals war, ist mir heute fremd.«
    Seine Augen waren trocken, aber die Vorstellung, sie hätten nass sein können, zeigte Ritchie abermals, dass es möglicherweise etwas in Colum O’Donabháin gab, das er annehmen konnte. Wenn der Mann geweint hätte, dachte er, wäre ich zu ihm gegangen und hätte ihm die Hand auf die Schulter gelegt.
    »Haben Sie das Gedicht gelesen?«, sagte Colum.
    »Ja«, sagte Ritchie.
    »Was halten Sie davon?«
    »Interessant.«
    Colum schüttelte den Kopf. »Man kann eine Tat begehen«, sagte er, »eine schlechte Tat, und man weiß, dass man es getan hat, aber niemand sonst weiß es, es ist privat. Und wenn es öffentlich wird, dann heißt das nicht nur, dass alle wissen, was man getan hat. Sondern man begreift

Weitere Kostenlose Bücher