Liebe und andere Parasiten
dichten Wald hinein, der zu beiden Seiten des Flüsschens in dem tiefen, schmalen Einschnitt im Hügel wuchs. Immer näher an den Fluss heran führte der von alten Wurzeln gerippte und von den Resten der Hasenglöckchen des Frühlings gesäumte Weg. Bec trat auf einen Zweig, und sie und ihr Vater blieben stehen. Ihr Vater blickte sich um, und Bec wusste, dass sie einen Fehler gemacht hatte, doch ihr Vater zeigte zum Himmel. Als Bec aufschaute, sah sie die Milchstraße wie einen wilden Wirbel, der dort oben erstarrt war.
Der Weg verlief jetzt knapp über dem Wasser. Der Vater signalisierte Bec, sich auf alle viere niederzulassen, und sie krochen bis zu einer hohen, dicken Wurzel, die den Pfad querte. Sie versteckten sich dahinter und hoben die Augen über den Rand. Vor sich sahen sie mehrere Becken, die der Fluss sich gegraben hatte, mit Binsenbüscheln und teils unter Wasser stehenden Erlen. Bec folgte dem ausgestreckten Finger ihres Vaters und sah zwanzig Meter entfernt ihre Beute im Flachwasser still auf einem Bein stehen, den Kopf in die Schultern gezogen, der Schopf vor dem Wasser gezackt und der lange Schnabel abstehend wie der Schirm einer Mütze. Der Vater sah Bec an, deutete auf sie, deutete auf sein Ohr, deutete auf die Vogelpfeife, deutete wieder auf sie, mimte Klatschen und Rufen und hielt den Daumen hoch. Bec hielt ihrerseits den Daumen hoch. Ihr Vater blickte sie an und zwinkerte leicht. Nur einen Moment. Er presste die Lippen zusammen, kniff sie kurz in die Wange, stand auf und verschwand lautlos zwischen den Bäumen.
Bec beobachtete den Reiher. Wie konnte er so lange regungslos auf einem Bein im kalten Wasser stehen? Schlief er? Wartete er auf einen Fisch? Sie gähnte. Sie durfte nicht einschlafen. Sie hatte gehört, dass Soldaten, die auf der Wache schliefen, erschossen wurden. Das würde ihr niemals passieren, wenn sie dafür erschossen wurde. Ihr war kalt, und sie wünschte, sie könnte auf- und abspringen. Sie wollte so geduldig sein wie der Reiher, so unsichtbar wie der Panther und so tapfer wie ihr Vater. Er hatte Nächte ungeschützt im Schnee und im Dschungel verbracht, mit Männern, die er »die Kameraden« nannte. Bec wollte gern ein Kamerad sein, auch wenn sie nicht genau wusste, was ein Kamerad war.
Sie hörte den Vogelruf ihres Vaters. Sie stand auf, klatschte in die Hände und schrie: »Reiher! Flieg weg, Reiher!« Der Reiher klappte seine großen Flügel aus, hüpfte träge in die Luft und strich über das Wasser zum anderen Ufer, wo er zwischen den Bäumen verschwand. Bec lauschte. Sie hörte nichts als das Rauschen des Wassers. Konnte ihr Vater einen Fehler gemacht haben? Konnte ihm etwas zugestoßen sein? Wenn er nun auf den Steinen am Rand des Flusses ausgerutscht war und sich ein Bein gebrochen hatte? Wie sollte sie ihn finden?
»Dad!«, schrie sie. »Dad!« Nach dem zweiten Schrei hörte sie seinen Vogelruf. Ein paar Minuten später berührte etwas ihre Schulter, und sie war nicht überrascht, sie wusste, dass er es war.
»Er ist entwischt«, sagte sie.
Ihr Vater hob ein Netz an, das in seiner rechten Hand baumelte. Etwas zappelte wütend darin. »Nein«, sagte er.
Bec fragte, wie er ihn gefangen habe.
»Eines Tages zeige ich es dir«, sagte ihr Vater.
Sie gingen zum Haus zurück. Der Vater hielt Becs Hand. Sie fragte ihn, ob sie einer von seinen Kameraden sei.
»Du bist mein bester Kamerad«, sagte ihr Vater.
»Und Ritchie?«
»Er ist mein bester Sohn.«
»Du hast doch nur einen!«
»Was für ein Glück, dass er der beste ist.«
»Hast du ihn jemals nachts mitgenommen, einen Reiher fangen?«
»Ritchie ist nachts nicht gern im Wald«, sagte ihr Vater. »Er tarnt sich nicht gern.«
»Hast du ihn gefragt?«
»Dein Bruder wird bekommen, was er haben will. Er wird eines Tages reich sein.«
»Darf ich ein böses Wort sagen?«
»Wenn es einen guten Grund gibt.«
»Er hat mir gesagt, reiche Leute seien Drecksäcke.«
»Da hast du’s«, sagte ihr Vater. »Er interessiert sich jetzt schon für sie.«
Sie kamen zum Haus. Statt Bec wieder zum Fenster ihres Zimmers hineinzuheben, ging der Vater mit ihr vorne herum, wo sie sahen, dass oben bei Ritchie noch Licht brannte. Sie hörten ihn auf der Gitarre klimpern.
»Sollen wir den Reiher zu Ritchie ins Zimmer lassen?«, fragte ihr Vater.
Bec überlegte. Wenn sie das taten, konnte ihre Mutter entdecken, was geschehen war. Sie konnte ihren Mann und ihre Tochter mit schwarz-grüner Kriegsbemalung im Gesicht ertappen und ihm
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