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Liebe und andere Parasiten

Liebe und andere Parasiten

Titel: Liebe und andere Parasiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Meek
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böse sein, weil er sie in seiner letzten Nacht alleingelassen und sich mit Bec verschworen hatte, und ihr, weil sie auf Reiherjagd gegangen war, obwohl sie eigentlich schlafen sollte, und ihre Mutter angelogen hatte. Wenn ihr Vater dagegen den Reiher an einem sicheren Ort versteckte oder ihn einfach fliegen ließ, dann konnten sie zurück ins Haus schlüpfen und sich heimlich waschen, ohne erwischt zu werden. Und doch war sie wahnsinnig neugierig, was Ritchie tun würde, wenn plötzlich ein großer grauer Vogel mit langem scharfem Schnabel in seinem Zimmer herumflatterte.
    »Ja«, sagte sie, und ihr Vater nickte, nahm das Netz mit dem zappelnden Vogel zwischen die Zähne und begann an der Hauswand emporzuklettern, indem er die Kappen der Schuhe und die Fingerspitzen in die Mauerspalten schob. Ein paar Minuten später hörte sie Ritchie schreien.
    Während die Familie abgelenkt war, säuberte sie sich das Gesicht und ging zu Bett, und als ihr Vater schließlich kam, um ihr einen Gutenachtkuss zu geben, schlief sie schon. Sie sah ihn nicht lebend wieder. Ritchie erzählte ihr, dass der Vater bei seinem Aufbruch in aller Frühe den Reiher mitgenommen hatte, um ihn in einem anderen Teil des Landes freizulassen.
    Einen Monat später lernte Bec auf der Beerdigung ihres Vaters die Kameraden kennen. Einige sahen gut aus, waren aufmerksam und still, wie ihr Vater, wie der Reiher. Sie hielten sich bevorzugt am Rand der Menge auf. Andere gefielen ihr gar nicht, Männer mit kurz geschorenen Haaren und breiten Brustkästen, vor Heimlichkeit platzend in feschen Uniformen, die sie offensichtlich kaum je trugen. Sie verstand, dass dies nicht die Männer waren, die ihren Vater getötet hatten. Zornige Iren sollten das getan haben. Die Kameraden und die Iren standen auf entgegengesetzten Seiten. Sie waren Feinde. Sie bekämpften sich in dem Land überm Meer, in Nordirland. Das war ihr gemeinsamer Kampfplatz, und die Kameraden waren von dort hierher nach Dorset gekommen, um Becs Vater für sich zu beanspruchen. Sie glaubten, dass sein Tod ihnen gehörte, und deshalb gehörte er zu diesem Kampfplatz überm Meer, und das gefiel Bec nicht. Die Kameraden standen um ihre Familie herum. Ihre Mutter sah schön aus in Schwarz, und die Kameraden fürchteten sich vor Schönheit, denn die war zu stark für sie und schüchterte sie ein. Aber Ritchie, der sich die Haare geschnitten hatte und seit dem Tod ihres Vaters netter und freundlicher geworden war, war von der Nähe der Marines fasziniert. Ihm schien es leichtzufallen, sich mit ihnen zu unterhalten, und umgekehrt ebenso, und Bec sah, dass ihr Bruder ohne Weiteres ein Kamerad werden konnte. Als die erste Erde auf den Sarg fiel, merkte sie erst richtig, dass er hohl war, eine Holzkiste mit ihrem Vater darin, anders als vorher, als die Marines ihn auf den Schultern getragen hatten. Kurz keimte in ihr die Hoffnung auf, dass der Tod manchmal doch nicht das Letzte war, was einem passierte, wenigstens nicht bei jedem. Dass manche Leute vielleicht ein Weilchen lebten, dann starben, dann wieder ein bisschen lebten. Warum nicht? Aber sie wusste schon, dass das nicht sein konnte.
    Als sie irgendwann studierte, wusste sie sehr viel mehr darüber, was Leute wie ihr Vater und die Kameraden taten. In der Bibliothek eignete sie sich den Wissensstoff am sichersten an, wenn sie ihre Träume mit dem, was sie las, in Verbindung bringen konnte, und ihre Erinnerungen hefteten sich an die Wissenskörnchen auf den Seiten. Als sie erstmals den Lebenszyklus des Parasiten studierte, der Malaria verursacht, erschien es ihr tapfer, wie die Parasiten, von einer Mücke in das riesengroße, feindliche, unbekannte Territorium des menschlichen Körpers geworfen, sich tagelang in der Leber versteckten, sich tarnten, damit sie als menschlich durchgingen, und sich an den Phagen vorbeischummelten, die auf dem Weg zum Herzen Wache standen. Wie gefährlich und schwierig die Reise der Parasiten zum Herzen doch war, durch das Herz hindurch in die Lungen, immer flussaufwärts, gegen den Blutstrom. Wenn sie an ihr Ziel gelangten, begannen sie mit ihrer Arbeit, und das große, mächtige, unendlich komplexe System, das sie infiltriert hatten, dieser menschliche Körper, wurde dadurch krank und vielleicht sogar zerstört. Die Parasiten töteten die Welt um sich herum; doch zu töten war nicht ihr Ziel. Ihr Ziel war nur, zu leben und sich zu vermehren.
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    Ritchie war gerade in einen Joey-Santiago-Riff vertieft, seine Fingerkuppen

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