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Liebe und andere Parasiten

Liebe und andere Parasiten

Titel: Liebe und andere Parasiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Meek
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brannten, da stürzte ein dämonisches Etwas ins Lampenlicht, und er fiel halb, halb sprang er vom Stuhl. Er schrie auf, duckte sich und schützte sich mit der Gitarre, aber die Bestie mit den Raubtieraugen und dem dolchartigen Schnabel war überall gleichzeitig, an der Decke, am Fußboden, an sämtlichen Wänden. Ritchie konnte nicht sagen, wo die Flügel aufhörten und der Schatten anfing. Als ihm gerade dämmerte, dass ein riesiger Vogel in sein Refugium eingedrungen war, schrie er abermals auf und prallte mit dem Rücken gegen die Tür, den Gitarrenkorpus an den Unterleib gedrückt. Hinter dem Vogel stand dessen teuflischer Herr und Meister in Gestalt eines Mannes mit schwarz-weiß gesprenkelter Haut im offenen Fenster und starrte ihn an.
    Ritchie hörte auf zu schreien, presste sich zwei Tränen aus den Augen und sank in die Hocke. Aus Furcht wurde Zorn, und er packte die Gitarre am Hals und schmetterte sie mit einem kolossalen Splittern und Krachen auf den Boden: seine erste.
    »Rock and roll«, sagte Ritchies Vater. »Du machst zu viel Lärm. Jetzt wird deine Mutter kommen. Ich wollte mit dir reden.« Er blickte in die Ecke, wo der verängstigte Reiher sich versteckte, ging hin und brach ihm den Hals. Er klemmte sich den toten Vogel unter den Arm und trat auf den Fenstersims.
    »Sag Bec, ich hätte den Reiher fliegen lassen«, sagte er. »Kümmer dich um die Frauen. Wir reden, wenn ich wieder da bin.« Und damit verschwand er.
    Im Flugzeug nach Dublin fünfundzwanzig Jahre später wanderten Ritchies Gedanken zum Tod des Reihers, wie er ihn sich über die Jahre halb bewusst ausgeschmückt hatte. Es gab zwei Dinge, die er wusste und Bec nicht, und diese Tatsache befriedigte ihn. Zum einen, dass seine Schule doppelt so teuer gewesen war wie Becs. Zum andern, dass sein Vater den Reiher getötet hatte. Nichts, was er seinen Vater je hatte tun sehen, und nichts, was er ihn hatte sagen hören, hatte ihn derart beeindruckt wie die Ruhe und Selbstverständlichkeit, mit der dieser dem Vogel in genau dem Moment den Hals umgedreht hatte, als sein Fortleben zur Belastung wurde. Man konnte, schien es Ritchie, viele Tausend Bücher lesen und doch nie eine solche Lektion darin erhalten, was es hieß, goldrichtig zu handeln, männlich und stolz in genau dem Moment, in dem Großzügigkeit komplett in Schonungslosigkeit umschlägt. In dem Moment rechtfertigt die Tat sich selbst; aber ein Moment zu früh und sie ist Grausamkeit, ein Moment zu spät und sie ist Schwäche.
    In der Ankunftshalle des Dubliner Flughafens wählte Ritchie die Telefonnummer, die er bekommen hatte, und traf kurz darauf einen rotgesichtigen Mann, der für seine kurzen gegelten Stachelhaare zu alt aussah. Mike arbeitete mit Colum O’Donabháin im Gemeindezentrum. Er brachte Ritchie zu einem Auto mit dem ersten Anflug von Rost am Radlauf.
    »Kamera nicht dabei?«, sagte Mike, als sie einstiegen. Das Auto roch nach Hund.
    »Wie ich schon in meinen Briefen erklärt habe«, sagte Ritchie, »ich dachte, beim ersten Mal ist es besser, es bleibt bei der Eins-zu-eins-Situation.«
    »In den Dokumentarfilmen ist das immer der große Moment, nicht wahr? Das erste Zusammentreffen.« Mike bot Ritchie eine Zigarette an und zündete sich eine an. »Das ist ein schwerer Tag für Sie, Mr Shepherd.« Er machte das Fenster auf und blies den Rauch in die feuchte Luft hinaus. »Was rede ich da? Was zum Teufel verstehe ich schon vom Filmemachen, was? Aber so Dokumentarfilme mag ich gern.«
    Ritchie hatte bis zwei Wochen vor dem geplanten Treffen mit O’Donabháin gewartet, um sich zu überlegen, welche professionelle Hilfe er für seinen ersten eigenen Film benötigen würde. Als ihm schließlich klar wurde, dass sechs Jahre Erfahrung mit Unterhaltungsfernsehen im Studio einen in den Augen eines großen Senders schwerlich dafür qualifizierten, in die Welt hinauszuziehen und eine Geschichte zu verfilmen, war es zu spät. Er hatte Zeit gehabt, mit ein paar Regisseuren essen zu gehen, und sich überlegt, einen von ihnen mitzunehmen, aber er hatte ihnen nicht getraut. Sie waren zu eifrig gewesen. Wollten wissen, was es so an Shepherd’schen Familienvideos gab. Sie hatten den Film zu ihrem eigenen machen wollen.
    »Fahren wir?«, sagte er. O’Donabháins Freund hatte den Schlüssel ins Zündschloss gesteckt, aber nicht umgedreht. Er lehnte sich rauchend zurück. War er auch ein Terrorist?, dachte Ritchie. Ist er immer noch einer?
    »Ich kenne Colum O’Donabháin jetzt seit

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