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Liebe und andere Parasiten

Liebe und andere Parasiten

Titel: Liebe und andere Parasiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Meek
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ist etwas anderes als die heimliche Tat. Man kann den Stachel herausziehen, und es wird schrecklich wehtun, und es kann dich umbringen, aber der Stachel wird nicht mehr in dir drin sein.
    Sie lehnte sich über die Brüstung der London Bridge und flüsterte der kabbeligen schwarzen Themse zu: »Ich habe Alex betrogen.«
    Ein Mann mittleren Alters mit freundlichem Gesicht und Silberrandbrille ging auf dem Bürgersteig an ihr vorbei, und Bec sagte zu ihm: »Ich habe mit dem Bruder meines Freundes geschlafen.« Der Mann eilte erschrocken weiter.
    Minutenlang starrte Bec ihr Telefon an und dachte daran, Ritchie anzurufen und ihn zu fragen, was sie seiner Meinung nach tun sollte. Ihr Finger schwebte so dicht über der Taste, dass sie ihn zufällig hätte anrufen können, aber sie ließ es bleiben.
    63
    Als das Flugzeug, das Alex nach Kalifornien brachte, über Los Angeles seine Pirouetten drehte und er auf die Quadrate der Stadt hinunterschaute, die sich in allen Richtungen bis zum Horizont erstreckte, als ob sie den ganzen Planeten einnähme, kam Alex sich wie ein Eroberer vor. Eine Weile vergaß er London. Mit großem Eifer lernte er die Kunst des populärwissenschaftlichen Dokumentarfilms.
    Seine erste Enttäuschung war das Ausmaß an durchsichtigem Bluff in der Sendung. Er wurde gefilmt, wie er in einer Straßenbahn durch San Francisco fuhr, als ob er auf dem Weg irgendwohin wäre, obwohl sie sich in Wirklichkeit in Taxis und Mietwagen durch die Gegend bewegten. Er klingelte bei einem Wissenschaftler, und der Wissenschaftler kam an die Tür und sagte »Hallo«, und sie mussten so tun, als ob sie sich gerade erst kennenlernten, obwohl sie sich schon zwei Stunden lang darüber unterhalten hatten, was sie sagen würden, und der Wissenschaftler ein Vierteljahr lang in einem halben Dutzend Telefonaten von einer Produktionsassistentin gebrieft worden war. Die Doku sollte fünfzig Minuten lang werden; für wie viel Inhalt blieb da wohl noch Platz, fragte sich Alex, wenn sie die gestellten Aufnahmen von ihm brachten, wie er in den Sonnenuntergang schaute oder am Strand spazierte, dazu noch die Panoramen verschneiter Gebirgsketten, Pferde im Wüstendunst und Hubschrauberblicke auf die Golden Gate Bridge? Die Crew und der Produzent waren freundlich, aber ein bestimmtes Maß an Liebenswürdigkeit wurde nie überschritten. Einmal hörte er, wie sie ihn sarkastisch als »das Talent« bezeichneten.
    Sie filmten ihn in staubigen Hügeln, vor zähen, knorrigen Sträuchern kniend, und er blickte in die Kamera und sagte, dass die Pflanzen über zehntausend Jahre alt waren, dass sie schon an diesem Ort wuchsen, als Großbritannien gerade eben von der Eiszeit befreit war und die Menschen den Ackerbau erfanden. Er sagte es fünfmal, bevor er es richtig hinkriegte. Er verhaspelte sich und legte die Betonung auf die falschen Stellen. Das Skript gefiel ihm nicht. Es machte zu viel Aufhebens von dem ordinären Gestrüpp, das so lange gelebt hatte, ohne Sterben gelernt zu haben. Beim Sprechen in die Kamera legte er sich im Kopf einen anderen Text zurecht. »Schauen Sie sich diesen sturen, verknorzten alten Knochen an. Er hat nicht den Anstand, das Feld zu räumen und es den frischen grünen Trieben zu überlassen. Er hält es nicht aus, ersetzt zu werden. Er will einfach nicht loslassen.«
    Das Erkenntnisinteresse der Wissenschaftler, die er interviewte, war durch ihr Streben, das menschliche Leben zu verlängern, verdorben worden. Sie alle hatten für eine einzige Entdeckung einen kurzen Ruhm genossen und bekamen seither von Besuchern immer wieder dieselben Fragen über dieselbe Entdeckung gestellt, und obwohl sie zunehmend bitter wurden, weil ihre neue Arbeit zugunsten der alten ignoriert wurde, ließen sie sich von dem Wunsch, an ihre frühere Herrlichkeit anzuknüpfen, dazu verleiten, dieselbe Sackgasse zur Unsterblichkeit immer weiter zu verfolgen; und diese Sturheit ließ sie ihr eigenes Älterwerden, ihre schwindenden Kräfte, noch viel schwerer ertragen. In den Tagen in Kalifornien dachte Alex oft an Harry. Wie unschön er Matthew behandelt hatte. Sein Wunsch, buchstäblich unsterblich zu sein, hatte die anderen Unsterblichkeiten vergiftet, die er im Fortleben seiner Nachfahren hätte haben können.
    Als der Aufenthalt nach zwei Wochen dem Ende zuging, sehnte er sich nach Hause. Er wünschte, er wäre Becs erstem Rat gefolgt und hätte des Films wegen nicht das Institut verlassen. Er wollte ihr zeigen, dass er bis zum Ende bei ihr

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