Liebe und andere Parasiten
sich alles weidlich verdient, das wunderbare Leben, den Ruhm, das schöne Haus, den idealen Freund, die herrliche Zukunft. Anders als Ritchie, der ordinäre, dicke, trashige alte Ritchie, hatte sie den Erfolg verdient.
Karin ließ ihn nicht im Stich. Vorsichtig hob sie Ritchies zerbrochene Hoffnungen Stück für Stück auf wie Spielsachen, die er auf den Boden gepfeffert hatte, und gab sie ihm heil gemacht und eingepackt zurück, in Bausteine der Zuversicht verwandelt. Er sei ein wunderbarer Vater, sagte sie. Ein Schöpfer und Künstler mit einer großen Liebe zur Musik. Ohne ihn, sagte sie, hätte es keine Band und keine Songs gegeben. War David Bowie denn so perfekt – oder Bono? War es nicht möglich, dass sie neidisch auf einen Rivalen gewesen waren? Konnte es nicht sein, dass Bowie es als Kompliment gemeint hatte, wenn er jemanden mit einem jaulenden Hund verglich? War Hound Dog Taylor nicht einer von Ritchies Favoriten? Sie erwähnte die Musiker, die Ritchie hinter seinem Rücken gelobt hatten, und er freute sich, sie noch einmal die Namen aufzählen zu hören. Und meinte er etwa, sagte sie, die Millionen, die Woche für Woche Teen Makeover guckten, seien alle dumm und hätten keine Ahnung? Auf manche traf das zweifellos zu, aber war das nicht gerade das Wunderbare an der Popularität, dass sich unter den ungeheuren Massen auch einige der besten Leute auf der Welt befinden mussten, die die Show wegen ihres ganz besonderen Zaubers mochten? Das Leben sei hart. Das Leben sei voller Leid, sagte Karin – und an der Stelle merkte Ritchie, dass sie eine große gedankliche Anstrengung unternahm –, er möge sich nur mal vorstellen, sagte sie, es gäbe keine Malaria und die Leute in Afrika lebten so lange wie die Europäer und hätten genauso viel Zeit und Geld. Wären sie dann nicht genauso gelangweilt und depressiv wie die Europäer und bräuchten populäre Talentshows, um die Leere in ihrem Leben zu füllen?
Ritchie nickte und sagte, wahrscheinlich habe sie recht, aber Karins Argumentation stellte ihn nicht restlos zufrieden, und ohne zu merken, wie oft er das tat, begann er, wenn es ihm schlecht ging, beim geringsten Anlass sich zu beklagen, wie mies er verglichen mit seiner Schwester sei. Eine fatalistische Stimmung beschlich ihn.
66
Das Studio der Rika-Films lag weit im Osten von London, wo die Stadt nach Essex überlappte, wo das Licht der Themsemündung die Bau-, Sanitär- und Lieferfirmen der Stadt beschien, wo dichte Reihen niedriger, kleinfenstriger Häuschen zwischen Straßen, Kanälen und Bahnlinien aufsprossen. Es war eine Welt der Masten und Brücken und Kräne, der Containerlieferungen von und zu den Häfen im Osten, der Rast- und Stell- und Parkplätze. Das Taxi setzte Bec vor dem Pförtnerhäuschen am Eingang zum Studioparkplatz ab, und Ritchie kam sie in einem schwarzen Lammfellmantel abholen, der offen über seinem Bauch flatterte.
»Lass uns zur Abwechslung ins Café gehen«, sagte er. Er sah erschöpft aus, und die Tränensäcke unter seinen Augen schienen sich verdoppelt zu haben. Er war nicht dicker geworden, wirkte aber schlaff, als ob ihn sein Gewicht irgendwie von innen ausgehöhlt hätte. Zu lächeln bedeutete heute für ihn eine Anstrengung, dachte Bec und fragte sich, ob das vielleicht Spuren eines Versuchs, Make-up aufzutragen, in seinem Gesicht waren. Ich komme mit meinen Sorgen bei ihm an und kriege keine von ihm, dachte sie.
Das Café lag um die Ecke in einer Ladenzeile, deren verbliebene Geschäfte mit ihren roten Backsteinmauern an alte Zähne im Zahnfleisch erinnerten: eine verbretterte Frittenbude, ein Büro, das Export Services offerierte, ein schicksalsschwer aussehender Pub und Wilson’s Refreshments, was in dicken roten Plastikbuchstaben auf einem gelb gestrichenen Brett stand. Die anderen Gebäude ringsherum waren neuer. Wie die äußere Hülle von Ritchies Studio waren sie keine richtigen Wohngebäude, eher riesige Schuppen, die wie Zelte abgeschlagen werden konnten, wenn ihre Besitzer weiterzogen.
Bei Wilson’s setzten sie sich an einen Tisch, und eine junge Polin mit Pferdeschwanz und Schürze nahm ihre Bestellung auf.
»Die Schokolade ist gut hier«, sagte Ritchie.
»Ich nehme einfach einen Tee, bitte«, sagte Bec.
»Einen Tee, eine heiße Schokolade und ein Schinkenbrötchen«, sagte Ritchie zur Kellnerin. Die meisten Männer im Café trugen Signalwesten und Stahlkappenschuhe. Es wurde englisch geschrien und slawisch gemurmelt.
»Viel los hier«, sagte
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