Liebe und andere Parasiten
betrachtete die Dinge auf dem Tisch neben ihrer Hand: ein Kugelschreiber mit dem Logo eines Pharmakonzerns, ein Block Post-its mit hochstehenden Ecken und ein Schwangerschaftstest. In gewisser Weise hatte sich nichts verändert. Es gab immer noch zwei Zukunftsmöglichkeiten, eine mit Kindern, eine ohne. Aber das Auftauchen eines Wortes auf einem Schwangerschaftstest verdarb die eine Zukunft. Kinderlosigkeit war jetzt wahrscheinlich etwas, wofür sie einen Aufwand betreiben musste, wenn sie es haben wollte. Es war nicht so, dass Mutterschaft urplötzlich mehr Anziehungskraft hatte; Kinderlosigkeit hatte weniger. Und trotzdem war sie irgendwie zufrieden, als ob das Relative und das Absolute der Sache ein und dasselbe wären.
Sie verließ das Haus und ging zum U-Bahnhof Angel. Arzt, dachte sie, Kleidung, Freiraum, Arbeit, Bauch, Ernährung, das Tier füttern. Sie stellte sich vor, Alex zu erzählen, dass sie schwanger war, ihn glücklich sein zu lassen und ihm dann zu erzählen, dass das Kind wohl von seinem Bruder war. Sie stellte sich vor, ihm erst zu erzählen, dass sie mit Dougie geschlafen hatte, und ihn reagieren zu lassen – wie würde er es aufnehmen? Würde er fortlaufen? Sie würde ihm nachlaufen.
Oder sie würde es geheim halten. Das war gut vorstellbar. Niemand würde es herausfinden, wie auch? Jahre würden vergehen, und das Geheimnis würde von neuen Ereignissen überwuchert und zugedeckt werden. Das Kind würde heranwachsen, und es würde ein Comrie-Shepherd-Kind werden.
Bec schritt durch den Bahnhofseingang und erspähte sich selbst auf dem Monitor über den Sicherheitsschleusen. Wie gewöhnlich und anonym ich aussehe, dachte sie. Wie die Bilder in den Nachrichten, wie die letzten Bilder von Leuten, bevor ihnen etwas Schreckliches passiert, bevor sie ermordet oder vergewaltigt werden. Sie sah nicht wie eine Mutter aus, fand sie; aber wie hatte eine Mutter auszusehen?
Viel Zeit schien vergangen zu sein, seit Dougie auf ihr gelegen hatte, und das Kind im Bauch gab ihr Zuversicht. Es gehörte in einer Weise zu ihr, wie es nie zum Vater gehören konnte. Sie fand es jetzt leichter, mit Ritchie zu reden. Sie rief ihn an und fragte, ob sie sich treffen könnten. Er ging beim zweiten Klingeln dran und klang erfreut, von ihr zu hören. Sie erzählte ihm, dass sie in einer wichtigen Sache seinen Rat brauche, und er meinte, sie könnten sich noch am Vormittag treffen, wenn sie zu ihm ins Studio käme.
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Niemand außerhalb von Ritchies Familie wusste, dass er sich beinahe erhängt hätte. In der Öffentlichkeit trug er Schals und Rollkragen und wurde dafür in Paparazzi-Bildreportagen verspottet. Karin erzählte ihm, sie habe ihn schlafend auf dem Fußboden seines Ateliers gefunden, umgeben von Bierflaschen und leeren Puddingbechern, neben sich ein Seil mit Schlinge und eine feuerrote Abschürfung um den Hals. In den Wochen danach erzählte er ihr so viele Wahrheiten über seine tiefen Ängste, dass die Wahrheiten, die er nicht erwähnte – dass er seinen Ruhm, seine Zeit, seine Aufmerksamkeit und Geschenke im Wert von ungefähr dreißigtausend Pfund für Schmeicheleien und Sex von einer Fünfzehnjährigen geopfert hatte und dass diese Tatsache demnächst in die Öffentlichkeit gelangen würde –, ihm nicht besonders ins Gewicht zu fallen schienen.
Er ließ Karin wissen, Bowie und Bono hätten recht gehabt: Er sei ein erbärmlicher Sänger. Es sei hirnrissig gewesen, sich einzubilden, er könne von Künstlern wie ihnen als ihresgleichen behandelt werden. Karin sei die mit der Stimme. Das sagten alle. Es sei ihm von jeher bestimmt gewesen, eine Talentshow des Mittelmaßes zu leiten. Indem Bec mit ihren hohen moralischen Prinzipien ihm den O’Donabháin-Film zunichtegemacht hatte, habe sie ihm die letzte Chance genommen, etwas Großes zustande zu bringen. Wenn er fort war, vermissten Ruby und Dan ihn nicht so sehr, wie sie einen besseren Menschen vermissen würden. Zeitlebens war er von ungewöhnlicheren Menschen umgeben gewesen: seinem tapferen Vater, seinem brillanten Freund Alex, seiner Frau Karin, die mit den cleveren Jungs von The What kluge, zärtliche Songs schrieb, und Bec, der ungewöhnlichsten von allen. Wie konnte er mit seiner Schwester konkurrieren? Kein Wunder, dass sie Vaters Liebling gewesen war. Sie war freundlich, intelligent, fleißig, anständig, bescheiden und schön. Sie log und betrog nicht. Alle liebten sie. Warum auch nicht? Sie hatte ein Mittel gegen Malaria gefunden. Sie hatte
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