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Liebe und andere Parasiten

Liebe und andere Parasiten

Titel: Liebe und andere Parasiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Meek
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sonst schon lange tot.«
    Harry setzte sich auf eine Bank. Shane setzte sich neben ihn. Sie sahen einer Amsel zu, die mit dem Schnabel Splittbröckchen vom Weg schnippte.
    »Sie wirken ziemlich fit«, sagte Harry. »Wie alt sind Sie?«
    »Ich werde einundvierzig. Ich mache Sport. Ich fühle mich irgendwie verpflichtet, was für meinen Körper zu tun.« Er nestelte am Henkel der Tasche. »Hätte ich wahrscheinlich ohnehin getan.«
    »Frau und Kinder?«
    »Ich lebe mit meinem Freund zusammen.«
    »Aha!«, platzte Harry heraus.
    Eine Bewegung im zweiten Stock des Instituts fing ihre Blicke, und sie sahen eine Gestalt im weißen Kittel, die mit einem Kolben in der Hand an einem Fenster vorbeischlurfte.
    »Die Geliebte meines Stellvertreters«, sagte Harry im Plauderton, auf das Fenster deutend. »Sie spioniert uns nach, um sicher zu sein, dass wir nicht den Lavendel des Steuerzahlers stehlen.«
    »Man hat mir davon erzählt«, sagte Shane. »Von Ihrer Diagnose. Zur Erklärung, warum Sie nicht anwesend waren.«
    »Mmm.«
    »Es tut mir leid. Ich hoffe, man wird etwas für Sie finden, so wie Sie etwas für mich gefunden haben.«
    »Mein Neffe Alex …« Harrys Gedanken rasten, und er vergaß, was er hatte sagen wollen. Er fragte Shane, was er beruflich mache.
    »Mode«, sagte Shane.
    »Ausgezeichnet«, sagte Harry, der in der Vorstellung lebte, etwas von Kleidung zu verstehen.
    »Ich habe nach der Behandlung gleich wieder zu arbeiten angefangen.«
    »Das freut mich.«
    »Ich entwerfe Luxusmäntel für Hunde.« Shane öffnete die Tasche und nahm eine Handvoll Leder und Metall heraus. »Den habe ich für Ihren Jack Russell gemacht. Es ist ein Geschenk für Sie beide.«
    »Für meinen Jack Russell?«
    »Ich habe die Größe geschätzt, aber wenn er nicht passt, ändere ich ihn um.« Er legte das Kleidungsstück zwischen ihnen auf der Bank aus. »Das Rückenstück, wir nennen es den Sattel, ist aus Ziegenleder, und die Sternembleme sind aus Messing. Die Seitenstücke sind handgenäht, und unten wird er mit diesen Elastanriemen umgeschnallt.«
    »Das ist ja unglaublich«, sagte Harry.
    »Nur ein kleines Dankeschön.«
    »Verstehe ich das richtig«, sagte Harry, »im ganzen Land gibt es Dutzende von Hunden, die ohne handgemachte Luxusmäntel rumlaufen würden, wenn wir Ihnen nicht das Leben gerettet hätten?«
    »Auf der ganzen Welt .«
    Harry wendete den Mantel in seinen Händen, rieb mit dem Daumen über die verschiedenen Materialien. Er hörte die Stimmen eines Mannes und einer Frau und Schritte im Kies. Durch die Säulen und Weinblätter sah er Carol mit seinem Sohn auf sich zukommen. Er spürte Matthews Mitleid aus dreißig Meter Entfernung.
    Sein Sohn hatte es schon als Junge verstanden, ihn auf die Palme zu bringen, indem er ihn dafür bedauerte, dass er nicht glauben konnte. Matthew hatte seinen Vater mit traurigen Augen angesehen und ihn bemitleidet, und Harry hatte geschrien, er sei auch ohne Jesus glücklich und zufrieden, worauf Matthew sich grämte und den Kopf schüttelte und meinte, er könne nicht glücklich und zufrieden sein, wenn er schreie, und Harry seinen Sohn fragte, wo er das geschickte Verdrehen von Emotionen gelernt habe. Waren seine hebräischen Propheten verkappte Psychoanalytiker, die nur warteten, bis sie ihre Stunden berechnen konnten? Darauf bemitleidete ihn Matthew noch mehr. Jetzt, da Harry krank war, wurde der alte Mann in die Sänfte des Bedauerns gesetzt, die sein Sohn für ihn bereithielt, seit er vierzehn war.
    Harry hatte seinen Sohn fast ein Jahr lang nicht mehr gesehen. Er legte Matthews Geduld negativ aus. Ihm schien, Matthew wartete still und bescheiden darauf, dass sein Vater in die Hölle kam, und so hing Matthew in seiner Erinnerung über ihm wie ein unheimlicher Schatten. Doch der besorgte Mann im zerknitterten Anzug, der jetzt auf ihn zukam, die Krawattenenden auf fünfundzwanzig nach sieben stehend und Sorgenfalten um die Augen, war sein Sohn. Harry wehrte nicht ab, als Matthew sich vorbeugte und ihn in die Arme schloss. Die Kraft seines Sohnes überraschte ihn. Es schien Jahre her zu sein, dass er zum letzten Mal umarmt worden war und die Wärme eines anderen Körpers an seinem gefühlt hatte. Eine Unterhaltung zu viert begann: Vorstellungen, Krankheiten, englische Unbeholfenheiten. Während er redete, fragte sich Harry, warum er das Christentum nicht schlicht als ein Gebrechen aufgefasst hatte, mit dem sein Sohn geschlagen war, ob er wollte oder nicht, wie Stottern oder Hinken.

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