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Liebe und andere Parasiten

Liebe und andere Parasiten

Titel: Liebe und andere Parasiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Meek
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Die Brüder wuchsen in Derby auf, wo ihr Vater bei Rolls-Royce Düsentriebwerke konstruierte. Beide mochten die Stadt nicht und gingen weg, sobald sie konnten. Lewis’ Derby war ein endloses Meer rauchgeschwärzter Häuser, ein hektischer, wuselnder Ring städtischer Modernität. Er zog nach Schottland und wurde Landarzt in Brechin. Für Harry war Derby von jeher zu ländlich mit dem Moos überall in den Rissen im Pflaster und den Sträuchern, die aus den Rinnsteinen wuchsen. Für ihn war es Provinz, praktisch selbst nur ein Dorf, und er konnte gar nicht früh genug nach London kommen. Er nahm mit seinem Erbe eine Hypothek auf ein heruntergekommenes Reihenhaus in Islington auf, an einem der Plätze zwischen der Upper Street und der Liverpool Road, mit vier Etagen, ausgebautem Dach und einem langen, schmalen Garten.
    Er und Jenny verfugten die schwarzen Ziegel, ersetzten die zweihundert Jahre alten Fenster, schliffen und lackierten die hölzernen Dielen, rissen die Dreißigerjahre-Tapeten ab, verputzten die Wände neu und strichen sie weiß, richteten das Dach, brachen Trennwände heraus, machten aus dem Dachgeschoss eine Bibliothek und legten den Garten neu im japanischen Stil an, mit Bambus, Kies und einem kleinen Teich. Harry hoffte, das Haus zu einem Treff für Intellektuelle, Revolutionäre und Künstler zu machen, einer Anlaufstelle für die diskutierfreudigen Großstadtratten Nordlondons. Er stellte sich vor, wie später einmal in Biografien das Haus am Citron Square als der Ort erwähnt wurde, »wo die Comries ihre notorischen Partys gaben«. Er stellte sich vor, wie der Begriff »Citron-Square-Set« geprägt wurde. Er stellte sich einen bestimmten Menschentyp vor: attraktiv, mager, aufgekratzt, stilvoll in alte Klamotten gekleidet, schlagfertig, literarisch und wissenschaftlich gebildet. »Schau dir mal die beiden an«, würden neidische Wadenbeißer sagen. »Wollen einen auf Citron Square machen.«
    Aber niemand kam. Die Comries konnten nicht den Brennstoff liefern, der das Interesse ehrgeiziger Intellektueller angefacht hätte: freie Getränke und Drogen, mühelos zu verführende junge Leute, Kontakt zu denen, die bereits reich und berühmt waren. Harry weigerte sich, das einzusehen, und beschuldigte seine Frau, seine Akademie der fröhlichen Aufklärung mit ihrer Trübseligkeit und Schüchternheit zu profanieren. Es frustrierte ihn, dass er Jenny nicht wie ein Haus renovieren, ihre Kleider aussuchen und ihr Energie geben konnte, und er warf ihr Achtlosigkeit vor, weil sie nichts dagegen unternommen hatte, dass Matthew vom Christuskult verführt wurde.
    Es reichte Harry nicht aus, sein Heil in der Arbeit zu suchen, und er verbrachte lange Wochenenden bei der Familie seines Bruders in Schottland. Trotzdem verletzte es seinen Stolz, als Jenny ihm kurz nach Matthews Auszug von zu Hause mitteilte, dass sie sich scheiden lassen wolle. Im heimischen Neuseeland eröffnete sie eine Galerie, in der sie Tierskulpturen aus Treibholz mit aufgeklebten Muscheln verkaufte. Als sie weg war, stellte Harry fest, dass sie ihm fehlte beziehungsweise dass ihm etwas fehlte. Er blieb allein mit dem Haus und seiner riesengroßen Unzufriedenheit zurück. Mit den Jahren erkannte er, dass die Unzufriedenheit ihn antrieb, und er begann sie zu nähren. Einige Jahre vor seiner Diagnose bekam er den Order of the British Empire verliehen.
    Harry führte Bec durchs Haus, während Alex den anderen etwas zu trinken einschenkte. Harry zeigte ihr den Weinkeller und ließ die Hand über die Reihen dunkler Glaskreise schweifen, die in dem kühlen, dunklen Raum unter der Straße ruhten. »Damit habe ich Jahre zugebracht«, sagte er. »Ich bin jeden Herbst nach Bordeaux gefahren, ich habe die Namen sämtlicher Chateaux auswendig gewusst, ich habe Weinzeitschriften abonniert und bin zu Verkostungen gegangen. Voriges Jahr um diese Zeit hatte ich tausend Flaschen. Selbst wenn ich jetzt jeden Tag zwei Flaschen kippen würde, könnte ich sie nicht alle austrinken, bevor ich sterbe. Mittlerweile schaffe ich kaum eine halbe Flasche, bevor mir kotzübel wird. Ich kann Partys und Dinners geben, wie jetzt, aber es gibt noch so viel zu tun, bevor ich abtrete, und ich werde schnell müde.« Er strich über die Flaschenböden. »Mein Sohn trinkt nicht.«
    »Sie könnten sie verschenken«, sagte Bec.
    »Hätten Sie sie gern?«, sagte Harry.
    Bec wurde rot. »Ich meinte nicht an mich«, sagte sie.
    »Sie und Alex könnten sie zusammen trinken.«
    »Wir haben

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