Liebe und andere Parasiten
konnte; und der kleine Chris. Ihr Vater war ein hohes Tier im Grafschaftsrat von Lancashire. Er hatte seinen eigenen Parkplatz vor dem Referat für Bildung und führte dort die Geschäfte in einem strahlend weißen Hemd und wechselnd zwischen einem halben Dutzend Krawatten, vier Anzügen und zwei Kaffeebechern. Sein Schreibtisch war breiter als sein Besitzer lang.
Die Familie wohnte in einem alten Pfarrhaus am Rande des Fenns, wo die Weiden schon mit Riedgras durchsetzt waren. Beide Eltern waren in der Gemeinde aktiv; mit ihren zwei Autos sausten sie ständig auf den schmalen, krummen Straßen zwischen Preston, Clitheroe und Longridge hin und her.
Auf der Fahrt zum Haus hielt Alex das zähe Gespräch am Laufen, indem er Fragen nach der Familie stellte, während Lettie sich stur auf die Straße konzentrierte. Er fragte nach Rose.
»Sie ist stinksauer, dass sie mir jetzt, wo sie sechzehn ist, ab und zu mal die Kinder beaufsichtigen soll«, sagte Lettie. »Wir hatten einen Streit, weil ich dich heute Abend abhole.«
»Ich hätte ein Taxi nehmen können«, sagte Alex.
»Schon gut«, sagte Lettie und hieb heftig mit der Handkante auf den Blinker.
»Harry geht’s besser, als die Ärzte erwartet haben«, sagte Alex.
Lettie schüttelte die Schultern, als täten ihr plötzlich die Muskeln weh.
»Heißt das, er wird wieder?«, sagte sie.
Durch Lücken in der Feldhecke hatte Alex im Vorbeifahren kurze Blicke auf gesunde, beleibte Schafe. »Ein paar Wochen mehr«, murmelte er. »Wann geht’s mit dem Lammen los?«
»Mit Bauerndingen kenne ich mich nicht aus«, sagte Lettie. »Ich bin nicht vom Land.«
Alex bekam für die Nacht das kleine Zimmer von Chris. Freundlich und ernst zeigte der Junge Alex sein Reich. Ein Plakat mit einem napoleonischen Kriegsschiff darauf, dessen Kanonen gerade eine kolossale Breitseite abfeuerten, und mit menschlichen Körpern, die von einer Explosion auf dem feindlichen Schiff in die Luft flogen, hing an einer Wand zusammen mit »Jesus Loves Me«-Stickern. Das sei die Schlacht von Trafalgar, klärte Chris ihn auf. Er werde später zur Navy gehen.
Als er allein war, setzte Alex sich auf die Steppdecke, die mit Bildern von Seemannsknoten bedruckt war. Das Bett war klein. Wenn er sich beim Schlafen nicht einrollte, würden seine Füße am Ende herausragen. Das Zimmer roch nach Milch. Er schickte Bec eine Mail und legte sein iPhone auf den Schreibtisch. Draußen war es dunkel. Ein Windstoß ließ plötzlich das Fenster klappern. Das Rütteln des hölzernen Rahmens wirkte dringend und persönlich, als ob jemand hereinwollte.
Dielen knarrten. Matthew stand in der Tür, dunkel und adrett, die schwarzen Augenbrauen wie kleine Pelze. Er trug noch Anzug und Krawatte aus dem Büro. Sie lächelten sich an und umarmten einander. Während Alex seinen Cousin hielt, dachte er: Früher haben wir das nicht gemacht, jetzt machen wir es.
»Der große Wissenschaftler«, sagte Matthew. »Welche Ehre.«
»Schön, dich zu sehen. Sie lassen dich lange arbeiten im Amt.«
Matthew hatte die Angewohnheit, im Gespräch kurz zu stocken, bevor er seinerseits etwas sagte, mehr, glaubte Alex, damit seine Gesprächspartner Zeit hatten, sich zu fragen, ob sie etwas Falsches gesagt hatten, als um sich selbst zu überlegen, was er sagen wollte.
»Ich bin im Moment nicht gut angesehen«, sagte Matthew. »Die jungen Muslime sagen, ich sei ein Islamhasser, die weißen Rassisten halten mich für zu feige, um zuzugeben, dass ich ihrer Meinung bin, und die Linken sehen in mir einen Fundamentalisten. Ich bin nur ein Staatsbeamter. Ich bin sicher, der Teufel freut sich, dass wir uns einbilden, wenn wir Schulmädchen verbieten, ihre Gesichter zu verschleiern, würde uns das vor seiner Macht bewahren.«
Matthew fragte nach Maria, und Alex erzählte ihm, dass sie sich getrennt hatten, und Matthew guckte bestürzt und strich mit den Augen über Alex’ lächelndes Gesicht, während er ihm seine Worte fragend wiederholte. Alex bejahte und machte sich klar, dass Matthew nicht wissen konnte, warum er über die Trennung von Maria glücklich zu sein schien.
»Ja«, sagte Alex und schlug aus Respekt für die Verlassene die Augen nieder. »Es hat nicht geklappt mit uns.«
Matthew sagte, das tue ihm leid. Er sagte die Worte wie im Takt, als zählte er die Jahre ab, die sein Cousin und Maria zusammen gewesen waren. Alex wollte ihm begreiflich machen, dass es nichts zu bedauern gab, dass es das Beste war.
»Ich habe jemand anders
Weitere Kostenlose Bücher