Liebe und andere Schmerzen
erschrick nicht darüber, was ich dich jetzt frage: Hast du schon mal an einen Jungen gedacht?«
Mir war, als ob ein Blitz durch die Decke von Melinas Häuschen schlüge und sengend durch meinen Körper schoss ... gleichzeitig geriet der Küchenboden unter meinen Füßen ins Wanken.
»Was ...?«
Melina fasste wieder nach meiner Hand, doch ich zog sie noch rechtzeitig vom Tisch und ließ sie auf meinen Oberschenkel fallen. Gleich darauf begannen beide Hände zu zittern, während ich reglos auf dem Stuhl saß und verstört in Melinas Augen starrte.
»Beruhige dich, mein Junge«, sagte sie. »Genauso, wie ich die Knospen deines Körpers zum Leben erweckt habe, öffne ich gerade auch eine Tür zu deinem Innern ... was du dich selbst bis jetzt noch nicht getraut hast. Das ist alles. Nichts, was du dahinter entdecken wirst, kommt von mir oder sonst von außen – es gehört ganz allein dir!«
Sie ist wirklich verrückt, dachte ich jetzt. Wie kommt sie bloß auf eine solch ungeheure Idee? Gleichzeitig drehte irgendein Komet rasende Runden durch meine Blutbahn und brachte den Herzschlag auf Trab. Wieso, ging mir dann durch den Kopf, rege ich mich eigentlich so auf? Warum lache ich nicht einfach und die Sache ist erledigt? Sie ist verrückt! Das ist mir doch spätestens bei meinem letzten Besuch klar geworden!
Melina stand auf, lehnte das offenstehende Küchenfenster an und zog die bestickte Gardine davor. Dann holte sie die Karaffe mit gekühltem Zitronenwasser aus dem Eisschrank und schenkte ein großes Glas ein, das sie vor mich hinstellte. Mechanisch griff ich danach und trank es zur Hälfte leer. Danach ging es mir etwas besser, und ich nahm sogar, mit noch immer leicht zitternder Hand, das Likörgläschen auf und kippte den restlichen Inhalt hinunter.
Melina setzte sich wieder an den Tisch, klappte die rote Schachtel ihrer geliebten Marke ›Santé‹ auf und nahm eine Zigarette heraus. Sie zündete sie mit ihrem goldfarbenen Rowenta-Feuerzeug an und blies den Rauch hoch in die Luft.
»Du musst jetzt gar nichts dazu sagen«, brach sie dann das Schweigen, das für einige Minuten wie ein drückender Nebel über uns gelastet hatte. »Bleib und trink einfach noch einen kleinen Likör, wenn du magst. Du kannst auch nach Hause gehen und dir deine eigenen Gedanken machen. Ich sage dir jetzt nur noch eins: Ich möchte nichts anderes, als dass du glücklich wirst, mein Herz! Du wirst es schwer haben. Aber du musst, allen Schwierigkeiten zum Trotz, deinen eigenen Weg finden und ihm folgen! Wenn du das nicht tust und dich selbst verleugnest, wird das Unglück dich durchs Leben begleiten. Glaub deiner Melina! Sie ist nicht verrückt ... sie hat nur Augen im Kopf und sieht den Dingen auf ihren wahren Grund. Der mag dich jetzt erschrecken, aber du bist intelligent und stark, du wirst es schaffen. Und du bist noch so jung, vielleicht kommen später mal bessere Zeiten. Du kannst nun bleiben oder gehen. Nur, wenn du gehen willst, versprich mir, dass du bald wiederkommst! Du hast ja keine Ahnung, wie sehr ich dich liebe ...«
Ich stand mit einer solch abrupten Bewegung auf, dass der Küchenstuhl hintenüber kippte. Ich hob ihn wieder auf, schob ihn unter den Tisch und sah Melina mit düsterem Blick an. Dann wandte ich mich wortlos um, rannte durch den Flur und zum Hintereingang hinaus.
Zu Hause ließ ich mich auf meinen Arbeitssessel vor meinem kleinen Schreibtisch fallen und starrte vor mich hin, während die Gedanken in meinem Kopf Karussell fuhren. Irgendwann spürte ich, wie mir plötzlich, ohne dass irgendjemand in der Nähe war und mich hätte sehen können, die Röte ins Gesicht schoss. Dann riss ich die unterste Schublade an meinem Schreibtisch auf und zog zwei abgelegte, vollgeschriebene Schulhefte heraus. Ich legte sie vor mich hin und blätterte das erste auf – und betrachtete dann die auf verschiedenen Seiten hingekritzelten Lockenköpfe.
Die Röte in meinem Gesicht steigerte sich, ohne dass ein Spiegel es mir hätte bestätigen müssen, zu der mohnblumenroten Intensität von Melinas Lippenstift. Kosta hatte vor ein paar Monaten nicht Melinas scharfen Blick gehabt, er hatte in meinem Gekritzel Mädchenköpfe gesehen. Und ich hatte bis zu diesem Augenblick selbst nicht gewusst, welchen sorgfältig verborgenen Träumen mein Bleistift da gefolgt war ... Jetzt blitzte die Erkenntnis plötzlich auf wie eine Supernova! Natürlich ... alle diese Lockenköpfe waren, trotz ihrer Unterschiedlichkeit, nur die verschiedenen
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