Liebe und andere Schmerzen
Gesichtsausdrücke ein und derselben Person: Es war Stelios! Der um ein oder zwei Jahre ältere, lockige Nachbarjunge von schräg gegenüber ... den ich fast täglich auf dem Balkon sah, oder auf der Straße auf dem Weg zur Schule. Er ging nicht in dieselbe Schule wie ich, daher kannten wir uns nur flüchtig als Nachbarn und nickten uns grüßend zu, wenn wir uns begegneten. Und nun nahm ich erst im Nachhinein wahr, welches Prickeln sein Anblick jedes Mal in meinem Körper hervorrief ... und es wurde mir gleichzeitig bewusst, wie oft ich von unserer Veranda aus sehnsüchtig zu seinem Balkon hinüberschielte und insgeheim auf sein Erscheinen hoffte!
Großer Gott und alle sonstigen Mächte dieser Erde – wieso, wie war das möglich?
Ein Abgrund tat sich unter mir auf ... Mit zitternden Händen klappte ich das Heft wieder zu und schob es tief in die unterste Schublade zurück. Dann legte ich die Arme auf den Schreibtisch, barg mein Gesicht in ihnen und begann zu weinen.
Wie ich schon erwähnte: Wir schrieben das Jahr 1957, auf einer ländlichen Insel mitten in der Ägäis ... Die ›Tür zu meinem Innern‹, die Melina aufgestoßen hatte, konnte damals für mich nur in ein Leben des Schmerzes und der Einsamkeit führen, in ein Leben der Verstellung und Lüge oder der Verachtung und des Ausgestoßenseins. Das war dem weinenden Jungen an seinem Schreibtisch zwar noch nicht in aller Schärfe klar, aber die Ahnung davon breitete schon ihre dunklen Flügel in seiner Seele aus.
Seitdem sind vierundfünfzig Jahre vergangen ... vieles hat sich geändert. Aus der ländlichen Idylle in der Ägäis ist schon längst ein kosmopolitischer Brennpunkt des Tourismus geworden. Zumindest in den Sommermonaten. Mit positiven und negativen Folgen, wie sie alle neuen Strömungen und Entwicklungen mit sich bringen. Verkrustungen der alten Gesellschaft brachen nach und nach auf, der Blick weitete sich und durchstieß Grenzen, die sich schließlich verwischten oder gar aufhoben. Die lineare Überschaubarkeit des ländlichen Lebens ging unter im Strudel fremder Zuflüsse aus allen Richtungen, die sich mit den alten Gewässern vermischten, das Tempo beschleunigten und neue Impulse zündeten. Eine neue, komplexere Welt – deren freierem Geist allerdings die Geborgenheit der dörflichen Gemeinschaft und die Werte und verlässlichen Richtlinien alter Traditionen zum Opfer fielen.
Damals waren von solchen Entwicklungen noch nicht einmal schemenhafte Zeichen am Horizont zu sehen. Und ich weiß nicht, wie ich die Jahre bis zum Abitur und meinem anschließenden Weggang von der Insel, um in Athen mein Studium aufzunehmen und schließlich dort zu bleiben, ohne Melina durchgestanden hätte ... Auch, wenn sie es war, die mich an die verborgene ›Tür zu meinem Innern‹ geführt und sie zuerst aufgestoßen hatte, so war es doch nur eine Frage der Zeit, bis ich sie selbst entdeckt hätte. Aber um wieviel schwieriger wäre alles gewesen, in welcher Kälte der Einsamkeit hätte meine Seele gefroren, hätte ich nicht Melinas wärmende Höhle gehabt, in der ich jederzeit Zuflucht, Trost und Verständnis fand! Und Liebe – eine so weitherzige und selbstlose Liebe, wie ich ihr nie mehr begegnet bin. Sie kannte als Einzige das, was damals mein Geheimnis war, und sie lehrte mich, es zu akzeptieren, ganz so, wie man seine Augenfarbe als naturgegeben akzeptiert. Sie half mir auf meinen Weg, den ich sonst nicht mit solcher Selbstachtung beschritten hätte, und mit der Furchtlosigkeit des Geistes, zu der sie den Grundstein in meiner verwirrten Jungenseele legte.
Bis kurz vor ihrem Tod hörte ich nicht auf, Gast in Melinas Küche zu sein, sooft ich auf meiner Heimatinsel zu Besuch war. Und nach wie vor schlüpfte ich, vor allem aus nostalgischen Gründen, und um sie mit meinem unangekündigten Besuch zu überraschen, durch die Hintertür in ihr Haus. Ich erzählte ihr aufgeregt von meinem ersten Freund, dann schon routinierter von dem zweiten und dritten – und auch den vierten und endgültigen konnte ich ihr noch vorstellen, zumindest auf einem Foto, das sie küsste, und dann ausrief: »Petros, Schatz, das ist der Richtige! Ich sehe und fühle es!« Ich brachte ihr mein erstes Gedichtbändchen – »Siehst du!«, sagte sie stolz mit glänzenden Augen. »Ich wusste es doch, dass ein Dichter aus dir wird!«
Sie blieb unverändert. Auch im hohen Alter war sie noch eine stolze, imposante Erscheinung und bis zuletzt flogen den Passanten in ihrer Gasse noch die
Weitere Kostenlose Bücher