Liebe und andere Schmerzen
»Wenn du so dringend weg musst, kannst du ja wohl auch auf meine Hilfe verzichten. Wir könnten es hier schön haben. Wir könnten uns glücklich machen. Aber wenn du von mir weg willst, musst du allein gehen.«
Carl sah sich im Zimmer um: Klebrige Käfer wuselten unter dem Bett hervor und hinterließen feuchte Spuren. Sie klickerten zu den schimmeligen Gardinen und kletterten dran hoch. Carl schrie heiser auf, stürzte zu dem Sessel, auf dem er seine Kleider abgelegt hatte, und grub die Socken aus dem Stoffgebirge. Auch seine eigenen Sachen fühlten sich feucht und vergilbt an. Das Lycratop, das gestern noch strahlend weiß gewesen war, sah jetzt aus wie aus dem Wäschekorb gefischt; die Jeans war steif und feucht – aber darüber machte sich Carl jetzt keine Gedanken mehr. Dies alles hier war mehr als unheimlich; es war bedrohlich und vergammelt, heruntergekommen und geschmacklos.
Durch all den Verfall schimmerte und strahlte Jeremiah noch intensiver, glich einer wunderschönen Blume auf einem Müllhaufen, deren betörender Duft gegen den Gestank ankämpfte. Carl stand bekleidet vor ihm und starrte ihn verzweifelt an. Dann kramte er sein Portemonnaie aus der hinteren Tasche, pusselte eine Visitenkarte hervor und legte sie vorsichtig auf den Tisch. Jeremiah starrte ausdruckslos zurück. Dann kroch er weiter nach hinten ins Bett, bis er mit dem Rücken an der Wand lehnte. Jeremiah schaute flehend zu Carl hoch, Tränen schimmerten in seinen Augen, als er mit erstickter Stimme flüsterte: »Bitte bleib bei mir. Ich kann nur durch dich sein, was ich bin. Geh nicht, bitte!«
Irgendetwas bewegte sich unter den lappigen Tapeten. Irgendetwas krabbelte darunter auf und ab, und um Jeremiahs Konturen herum.
Carl flüsterte: »Leb Wohl. Du bist ein Traumjunge. Aber die Gegend gefällt mir absolut nicht.« Dann versuchte er einen Scherz zu machen, indem er sagte: »Das nächste Mal bei mir Jeremiah, ja?«
Carl war bereits an der Tür, als er Jeremiah fast weinend sagen hörte: »Was ich heute Nacht für dich war, kann ich nur hier für dich sein. In meiner Welt, zu meinen Bedingungen. Wenn… wenn du jetzt gehst, könntest du dich verirren. Und du würdest mich nie wieder sehen. Nie wieder, verstehst du?«
Carl drückte die Klinke nach unten und ließ die Tür nach innen aufschwingen. Er wandte sich noch einmal zu Jeremiah und sah ihn da sitzen: Ein strahlender, erotischer Wunschtraum, eingebettet in Verfall, Moder und wuselnde Insekten.
»Nie wieder?«
Jeremiah nickte.
Carl wandte sich brüsk ab, selbst den Tränen nahe, und ging.
Carl war verärgert und traurig; es tat ihm im Herz weh, sich abzuwenden und zu gehen. Ohne vom Boden hochzusehen, klappte er die Tür hinter sich zu und als er dann den Kopf hob, um nach rechts in den teppichbelegten Gang zu sehen, entfuhr ihm ein schriller Schrei.
Der Gang war weg. Er befand sich nicht einmal mehr in einem Gebäude, sondern stand mit seinen sündteuren Sneakers auf schwarzer, staubiger Erde. Er drehte sich zu der Tür um, die er hinter sich geschlossen hatte, um in Panik zurück in den Raum zu flüchten – da war Jeremiah. Und Jeremiah war nicht nur schön, sondern auch wissend. Sicher wusste er, was das hier war – als er sah, dass da keine Holztür mehr war, sondern eine gewellte Blechtür. Der Zugang zu einer alten Blechbaracke. Mit einem weinerlichen Geräusch drehte sich Carl abermals um und besah sich das Inferno.
Es waren endlose Schlackehalden. Der Himmel war beunruhigend fremd und die Wolkendecke dicht und ölig. Krankes, fahles Licht sickerte durch diese Wolken. Hin und wieder schossen Feuersäulen aus der Erde. In der Ferne sah Carl unzählige Menschen in merkwürdigen Kostümen in langen Prozessionen dahinschlurfen.
Carl wimmerte: »Was?« Er drehte sich im Kreis, umschlang mit den Armen seinen Oberkörper und fragte schluchzend: »Was?«
Jetzt war auch die Blechbaracke weg. Carl stand auf einer sanften Anhöhe und konnte von hier aus bis zum Horizont nur Schlackeberge und Schlacketäler sehen. Wahre Schluchten, Feuer und Rotz vom Himmel. Bei den näheren Schlackekegeln sah er, dass sich immer wieder weiter oben Brocken lösten und, kleine Staubfahnen hinter sich herziehend, nach unten kollerten. Wenn so etwas geschah, löste sich einer der seltsam gekleideten Männer aus der Prozession, nahm den Brocken und kletterte damit in einer völlig sinnlosen Aktion den Schlackeberg hoch.
Carl flüsterte: »Jeremiah? Bringst du mich bitte nach Hause?«
Doch
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