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Liebe und andere Schmerzen

Liebe und andere Schmerzen

Titel: Liebe und andere Schmerzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hrg. Jannis Plastargias
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hier gab es keinen Jeremiah. Nur – etwas weiter weg – einen alten, buckligen Mann mit einem dreckigen Mantel und einem schmutzigen, drahtigen Bart, der einen Kinderwagen vor sich herschob. Carl machte ein paar Schritte in seine Richtung. Dann rutschte und strauchelte er die flache Anhöhe hinunter und rief: »He! Sie! Hilfe! Ich brauche Hilfe!«
    Der alte Mann blieb stehen, schirmte die Augen mit der flachen Hand ab und schaute zu ihm hinüber. Dann deutete er mit einer siegessicheren Geste zu Carl und dann auf den Kinderwagen. Carl sah sich panisch um. Vielleicht konnte er etwas in seiner Nähe sehen, das ihm bekannt vorkam. Er wollte nicht wirklich zu dem alten Kinderwagenmann, denn der war zutiefst beängstigend. Das Einzige, was Carl sah, das ihm bekannt vorkam, hier aber völlig sinnlos wirkte, waren die Türen. Die Türen, die er schon auf seiner Fahrt hierher gesehen hatte: Türen in Türstöcken ohne Wände darum herum, ohne Gebäude dahinter. Wie von einem surrealistischen Maler in eine trostlose Landschaft gestellte Türen – halb offen, ganz offen, manche geschlossen. Von den offenen Türen ging ein unangenehmer, kalter Geruch aus. Er drehte sich wieder in Richtung des alten Mannes, der bei seinem Kinderwagen stand und ihm winkte.
    Carl lief auf ihn zu und bemerkte plötzlich und zu Tode erschrocken, dass seine Kleidung an ihm schlotterte. Das einst enge Tanktop hing wie ein Fetzen an ihm herunter und die schwarze Jeans schlotterte, lag in Falten auf den Schuhen, die auch plötzlich viel zu groß waren.
    Carl fing an zu kreischen. Er wollte fluchen und lief weiter. Er hatte das Gefühl, in seiner Kleidung zu schrumpfen und immer kleiner und kompakter zu werden. Dann strauchelte er und rollte direkt vor die Füße des uralten Mannes.
    Carl fand, dass der Mann zwar ungepflegt und hässlich war, aber kein böses Gesicht hatte. Es sah vielmehr bekümmert aus. Der Kinderwagenmann bückte sich und fummelte an Carls Kleidung herum; er zog ihn aus. Carl sah an sich herab und weinte. Fort waren seine schlanken Beine, fort war der schöne, gerade Schwanz, die antrainierten Bauchmuskeln, weg die hübschen Brustwarzen. Er patschte mit seinen kleinen, pummeligen Händen an seinen Kopf. Auch Haare gab es keine mehr.
    Oh mein Gott! – wollte er schreien – Auf was für einem Scheißtrip bin ich denn da?
    Aber es kamen keine Sätze über seine Lippen, sondern speichelversprühendes Babygeschrei. Carl fand sich im Leib eines einjährigen Kindes wieder und der alte Mann hob ihn mit einem Gesichtsausdruck des Bedauerns hoch, legte ihn in den rostigen, heruntergekommenen Kinderwagen. Dann deckte er ihn mit einer kaltfeuchten blauen Babydecke zu, stemmte sich gegen den Kinderwagengriff und machte sich mit dem neuen Kind auf den Weg durch das Jeremiahland.

    »Wieder einer?«
    »Ja. Den Informationen der anderen Krankenhäuser zufolge sind es in dieser Nacht bereits fünfundzwanzig. Herrgott! Fünfundzwanzig junge Leute, und wir haben noch nicht mal eine Ahnung, was sie da eigentlich zu sich genommen haben.«
    »Der ist noch ziemlich jung. Nicht der Jüngste, aber jung. Ich glaube, der Jüngste war vierzehn Jahre alt. Der, den sie im Park gefunden haben.«
    Die zwei Ärzte gingen hinter dem Sanitäter, der ein Krankenbett vor sich her zum Aufzug schob. Die Türen glitten auf, die drei Männer stiegen ein und stellten sich neben das Bett, in dem der blasse, gut aussehende Junge lag, und vor sich hin brabbelte wie ein Baby.
    »Wir haben noch immer keine abgeschlossene Analyse der Substanzen in dieser Droge. Wir haben die Datenbanken im großen Stil abgeglichen und einer der Wirkstoffe scheint das in Mittelamerika vorkommende Yage zu sein. Also zumindest diesen Teil des Wirkstoffes konnten wir isolieren. Hat er etwas gesagt?«
    Der Sanitäter drehte sich zu ihnen und sagte leise: »Ja. Als wir ihn auf der Bahre hatten, aus der Bar trugen und in den Krankenwagen schoben, sagte er so etwas wie: ›Jeremiah? Bringst du mich bitte nach Hause?‹«
    Die zwei Ärzte schauten sich entsetzt an. Der Sanitäter ergänzte seine Information: »Auch wenn es noch keine Analyse gibt, die Rettungsfahrer haben schon einen Namen für die Droge: Jeremiah. Das ist das Einzige, das alle Opfer, die wir bergen konnten, miteinander verbindet: Sie bitten jemand namens Jeremiah, sie nach Hause zu bringen.«
    Der Sanitäter schob das Krankenbett aus dem Lift in einen breiten Korridor und rollte ihn nach links. Der diensthabende Oberarzt schaute ihm

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