Liebe und andere Schmerzen
übers Gesicht, ich lege ihm die Hand auf die Schulter und frage: »Alles in Ordnung?«
Er schüttelt meine Hand ab wie ein lästiges Insekt.
»Nichts passiert«, sagt er, aber seine Lippe blutet.»War nichts weiter«, er schaut mich flüchtig an, seine Augen sind dunkel umrahmt, dann geht er weiter.
2
Einige Wochen später, es liegt schon Herbst in der kühlen Luft, gehe ich abends vom Kirchenchor nach Hause. Der Kantor hat anlässlich seines Geburtstags eine Bowle mitgebracht, die wohl zu stark war, denn ich habe Mühe, geradeaus zu gehen. Gleichzeitig fühle ich mich so unbeschwert wie lange nicht mehr. In einer verlassenen und dunklen Straße kommt mir eine einsame Gestalt entgegen. An dem langen, offenen Mantel erkenne ich Ryan. Ich merke, dass sein Schritt sich instinktiv verlangsamt, als er jemanden entgegenkommen sieht. Wie ein Tier, das Witterung nach dem Feind aufnimmt. Doch dann geht er wieder selbstsicher. So kommen wir uns auf dem schmalen Bürgersteig entgegen.
»Hallo Ryan«, sage ich ziemlich laut.
»Kennen wir uns?«, fragt er erstaunt.
»Du erinnerst dich wahrscheinlich nicht.«
Ryan tritt näher, fixiert mein Gesicht: »Ich glaube, jetzt erinnere ich mich.«
Er kommt noch näher, sein Gesicht ganz dicht vor meinem, aber dann zuckt er zurück.
»Hey, du brauchst nicht denken, du bist der einzige Schwule in der Stadt.« Noch während ich spreche, merke ich, dass ich ziemlichen Quatsch rede.
Ryan lacht. »Ach wirklich? Fühlst du dich gerade mutiger, als du bist?«
Ich versuche, in meinem Kopf eine geistreiche und schlagfertige Antwort zu formieren, aber dadurch wird es nur schlimmer. Ryan tritt langsam in den Schatten eines Torbogens und lehnt sich an die Mauer.
»Komm her, wenn du dich traust.«
Ich schaue mich nach rechts und links um, weit und breit kein Mensch. Ich gehe ihm nach und trete dicht vor ihn. Er verströmt einen erdigen Geruch, der nicht sehr angenehm ist, mich aber trotzdem anzieht. Ich nehme die Hände aus den Hosentaschen, aber ich wage es nicht, ihn zu berühren, ja nicht einmal, ihn anzusehen.
Ryan streckt die Arme aus und zieht mich an sich. So heftig, dass ich mich an der Wand hinter ihm abstützen muss. Als ich mich gefangen habe, lege ich die Arme um ihn. Es fühlt sich so gut an, von ihm gehalten zu werden, seine Wärme und Kraft zu spüren, wie noch nichts in meinem Leben. Dann küsst er meinen Hals, saugt sich fest, und ehe ich mich versehe, atme ich schwer.
»Zu mir oder zu dir?«, flüstert er an meinem Ohr.
»Wenn du eine eigene Bude hast, zu dir.« Ich überlege nicht eine Sekunde.
Als wir fertig sind – völlig fertig – angelt Ryan ein Paket Zigaretten unterm Bett hervor.
»Willst du auch eine?«
»Nein, ich rauche nicht.«
Er legt sich hin, eine Hand hinterm Kopf verschränkt und nimmt einen tiefen Zug. Das schwarze Make-up um seine Augen ist ein bisschen verwischt.
»Was bist du für ein komischer Typ, hm? Läufst rum wie ein Chorknabe, aber springst in Null Komma nichts mit dem schrägsten Typen der Stadt ins Bett.«
»Ich bin Chorknabe, unter anderem.« Ich nehme ihm die Kippe aus der Hand und ziehe dran, mein Blick folgt den Rauchkringeln Richtung Decke.
Ryans lange Finger mit den schwarz lackierten Nägeln nehmen mir die Kippe ab.
»Der letzte Sex war bei dir aber auch schon eine Weile her, oder?«
Ich bekenne Farbe: »Ich hatte noch nie Sex.«
Ryan schaut mich erstaunt an. «Wieso hast du das nicht gesagt?«
»Weshalb?«
»Ich hätte mir … «
»Zeit gelassen?«, ich grinse, «War schon okay.« Ich nehme noch einen Zug.
Ryan stützt sich auf und schaut mich forschend an, während er die Zigarette bis zum Filter aufraucht. »Wollen wir uns mal wieder treffen?«
Ich nicke langsam.
»Nächste Woche? Selber Ort, selbe Zeit, selbe Tätigkeit?«
»Ja.«
Und wir treffen uns jede Woche nur einmal, selbe Zeit, selbe Tätigkeit. Den Rest der Zeit tue ich das, was ich immer tue. Doch manchmal, ganz plötzlich, in der letzten Reihe des Chors, fällt mir eine Szene mit Ryan ein, seine Hände mit den glänzenden schwarzen Nägeln überall auf meinem Körper, sein Mund, das Geräusch wenn er kommt. Und ich habe Mühe mir nichts anmerken zu lassen, mitten in der Kirche.
3
Es ist Winter geworden, als ich auf meinem Heimweg von der Probe des Kirchenchors am Linkentreff vorbeikomme. Ja, so etwas gibt es in unserer Stadt, wird auch nur alle drei Monate von Rechten überfallen. An der Wand neben dem Eingang stehen zwei Jungen und küssen
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