Liebe und andere Schmerzen
sich. Der, der mir den Rücken zuwendet, hat einen roten Iro. Der andere ist Ryan. Wie gebannt schaue ich ihnen zu, während sie sich leidenschaftlich küssen. Nach einer Ewigkeit, wie mir scheint, öffnet Ryan die Augen und sieht mich über die Schulter des anderen Jungen hinweg an. Ich senke den Blick, gehe weiter.
In der nächsten Woche zögere ich, ob ich wieder zu Ryan gehen soll, aber ich denke nicht ernsthaft daran, ihn nicht mehr zu sehen. Als ich auf seinem Bett sitze, kann ich mir die Frage nicht verkneifen: »Ist dieser andere Junge dein Freund?«
»Nein, wir haben nur ein bisschen rumgemacht. Bist du eifersüchtig?«
»Ich habe ja kein Anrecht auf dich«, sage ich leichthin.
Und doch, während meine Lippen über seinen Körper wandern, kann ich nur daran denken, was der Andere wohl mit ihm gemacht hat. Und während ich auf seinem Rücken liege und seinen Nacken küsse, merke ich, dass ich mir wünsche, er würde nur mich begehren. Aber das tut er nicht und nichts, was ich tue oder sage, wird ihn dazu bewegen. Später taste ich unterm Bett nach Kippen, denn Ryan bewahrt sie an den unmöglichsten Orten auf. Meine Hand stößt an etwas Hartes, das größer ist als eine Zigarettenschachtel.
»Was liegt da?«
»Meine Geige.«
»Deine was?«
»Ja, kann ich sogar spielen.«
»Wollten deine Eltern, dass du das lernst?«
»Nein, wollte ich selbst lernen. Willst du mal hören?«
Ryan holt die Geige unterm Bett hervor und legt los. Er spielt kraftvoll und energiegeladen, dunkel und rau, so wie ich Geige niemals zuvor gehört habe. Es klingt fantastisch, er ist fantastisch. Als er die Geige senkt, nehme ich meinen ganzen Mut zusammen:
»Ryan, kannst du dir vorstellen, naja, vielleicht … dass aus uns mal mehr wird?«
Ryan setzt die Geige ab und schaut mich überrascht an. Seufzend setzt er sich neben mich aufs Bett.
»Darum das?«, er streicht über das nietenbesetzte Lederarmband, dass ich gestern gekauft habe. Dann fährt er durch meine Haare, die kürzer geschnitten sind und mit Gel gestylt.
»Und das?«, er hebt mein neues, bedrucktes T-Shirt auf. »Soll ich dir Kajal leihen?«
»Würde dir das gefallen?«
»Nein ... So bist du doch nicht. Du kannst dich so stylen, und hey, es steht dir nicht schlecht, aber du wirst trotzdem der Typ aus dem Kirchenchor bleiben. Der nette Kerl, der im Theater die zweite Besetzung spielt und alten Omas über die Straße hilft.«
»Aber fürs Bett reiche ich dir?«
»Ich dachte, wir haben Spaß miteinander. Haben wir doch auch.«
»Und das muss reichen?«
Ich schaue weg, denn ich will verdammt noch mal nicht weinen.
»Sei nicht traurig. Ich bin nichts für dich. Ich war nie jemand, auf den man zählen kann.«
Ich dringe nicht weiter in Ryan. Ich bin ein verdammter Feigling. Als ich gehe, folgt er mir zur Tür und küsst mich auf den Mund. So herzlich verabschiedet er mich zum ersten Mal.
4
Zwei Tage später gehe ich durch die Stadt. Auf dem Markt treffe ich einen ehemaligen Klassenkameraden von mir, der jetzt auf Banker macht. Nach dem üblichen »Hallo« und »Wie geht’s« fragt er mich:
»Hast du schon das Allerneuste gehört? Letzte Nacht haben ein paar Rechte auf offener Straße diese kleine Schwuchtel, die immer schwarz rumlief, erschlagen.«
Wie viele ›Schwuchteln‹ gibt es in dieser Stadt? Lieber Gott, lass es nicht Ryan sein. Ich versuche, meine Bestürzung zu verbergen.
»Du meinst diesen Typ, der immer Make-up trägt und so lange Mäntel?«, frage ich möglichst ruhig.
»Ja den, Ryan hieß der, glaub ich. Kanntest du ihn?«
»Nei… Nein, ist nur schlimm, was so passiert.«
»Ja echt, kann uns ja zum Glück nicht zustoßen, wir laufen ja nicht so auffällig rum. So, ich muss weiter, schönen Tag noch.«
Ich bleibe mitten auf dem Markt stehen. Vielleicht ist es ja gar nicht wahr, versuche ich mir einzureden. Als ich endlich wieder einen klaren Gedanken fassen kann, gehe ich rüber zum Zeitschriftenladen. Ich schnappe mir ein Blatt mit reißerischer Überschrift, vorn grinst mich ein Promi an, aber auf Seite drei finde ich, was ich suche. Ein nur leicht verfremdetes Foto, auf dem ich Ryan erkenne, das Alter stimmt auch und er ist tot, erschlagen, nachts auf offener Straße von mehreren Rechten totgeprügelt …
Ich gehe durch die Stadt wie ein Schlafwandler. Alles erscheint mir unreell. Die Menschen, die ganz normal ihren Beschäftigungen nachgehen. Die schwatzen und lachen. Und niemand scheint erschüttert darüber zu sein, dass in
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