Liebe und andere Schmerzen
dieser Stadt ein Mord passiert ist. Und die, die vielleicht erschüttert darüber sind, reden nicht darüber, weil es sonst Realität annehmen würde; etwas, was es in unserer schönen, friedlichen, kleinen Stadt nicht geben darf.
Ich beobachte die Menschen, als wäre ich nicht anwesend, wie ein Alien, der irritiert das humanoide Verhalten studiert, es aber nicht verstehen kann.
Der Bürgermeister sagt in einem Zeitungsinterview, dass diese Tat ein bedauerlicher Einzelfall war, eine Ausnahme. Und Ryan habe die Täter provoziert, das dürfe man auch nicht vergessen. Womit er sie provoziert haben soll, sagt der Bürgermeister nicht. Außerdem wird ein Polizeisprecher zitiert: »... werden alles daran setzen, die Täter zu fassen«. Was ja eigentlich nicht schwer sein kann in so einer kleinen Stadt.
5
Abends im Bett überfällt mich plötzlich die Erinnerung an Ryan, meine Hände in seinem Haar, während er sich über mich beugt, die Handbewegung, mit der er sich eine Kippe anzündet, wie attraktiv er aussah, wenn er durch die Straßen ging … und endlich kann ich weinen, ich weine um Ryan, und ich weine um dieses Ungreifbare, das vielleicht zwischen uns hätte sein können und das ich nun nie wieder spüren werde, weil Ryan tot ist. Ich überlege, ob ich zu seiner Beerdigung gehen soll. Richtig zusammen waren wir nicht, offiziell schon gar nicht, niemand hat gewusst, dass wir einmal in der Woche miteinander geschlafen haben. Ich beschließe, nicht hinzugehen, weil sich jeder nur fragen würde, was ich da will. Wahrscheinlich habe ich Angst …
Zwei Tage später gehe ich zu einer Veranstaltung der Kirchgemeinde, weil unser Chor dort singen soll. Anschließend bekomme ich mit, dass eine Gruppe von Leuten über Ryan redet. Ich stelle mich aus Neugier dazu, doch sie reden abfällig über ihn.
»Wie der rumlief, und arbeitsscheu auch, naja ist trotzdem schlimm, was passiert ist.«
In mir beginnt es langsam aber stetig zu kochen. Am liebsten würde ich laut schreien, aber ich beherrsche mich. Stattdessen sage ich ganz ruhig und mit einem verbindlichen Lächeln:
»Aber er war gut im Bett!«, drehe mich um und gehe langsam weg.
Carsten Nagels
ROTE LIEBE
D ie Musiker betreten die Bühne einer andalusischen Bar, dicht gefolgt von den Tänzerinnen. Die Gitarristen setzen sich auf ihre Plätze und greifen nach ihren Instrumenten. Die Tänzerinnen, unter die sich auch ein Tänzer gemischt hat, tragen andalusische Trachten. Wie schön es doch aussieht.
Du sitzt an meiner linken Seite, so dass du die Künstler gut sehen kannst und isst gerade das letzte Stück der Thunfisch-Tapa, die wir uns bestellt hatten. Die Kellnerin bringt uns zwei neue Gläser Rotwein. Wir erheben sie, prosten uns zu, nehmen einen Schluck und lächeln uns an. Der Wein mundet köstlich.
Mein rechtes Bein schmerzt.
Die Gitarristen beginnen mit dem Flamenco. Die Tänzerinnen verbergen noch ihre Gesichter hinter den Fächern und der Tänzer steht mit dem Rücken zum Publikum, doch nach einer kurzen Weile dreht er sich und beginnt sich zu bewegen. Gespannt folgen wir seinen geschickten Pirouetten, der Rhythmus der Musik setzt sich in unseren Ohren, unserem ganzen Körper, fest. Schnell ziehen beide uns in ihren Bann.
Meine Gedanken sind bei dir. Ich beobachte dich, sehe deine Begeisterung.
Die Darbietung verzaubert mich, ist sie doch auch Ausdruck unserer Beziehung, unserer Leidenschaft füreinander.
Die Leute schauen uns an. Vielleicht denken sie sich ihren Teil, vielleicht auch nicht. Es ist auch nicht wirklich wichtig, dir nicht und mir nicht mehr. Früher war das anders. Früher war mir vieles wichtig. Früher kannte ich dich aber noch nicht.
Der Tänzer scheint die zwei anderen Tänzerinnen zu beherrschen, sie unterwerfen sich seinem Tanz.
Du berührst meine Hand, lächelst mich an, ich lächele zurück.
Die drei Gitarristen spielen im Einklang. Ich fühle mich glücklich und hoffe du auch.
Ich denke zu viel, hattest du mir gesagt. Das Denken würde mich daran hindern, das Leben zu genießen. –Wie recht du damit hattest. Wie schön es doch ist, nicht zu denken, der leidenschaftlichen Musik zu lauschen und den rhythmischen Bewegungen der Tänzer zu folgen.
Die Denkmuster vieler Menschen sind einfach gegliedert. Einfache Zusammenhänge sind leicht zu verstehen. Komplizierte Zusammenhänge hingegen weniger. Und komplizierte Beziehungen schon mal gar nicht.
Wir erheben unsere Gläser und nippen daran. Wir küssen uns auf die Lippen. Ein
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