Liebe und Tod in Havanna
in der ersten Reihe. Wie viele Scheidungskinder kannte Jo seinen Vater kaum. Diese Tournee durch die kubanische Provinz hatte ihm seinen Vater näher gebracht. Jo hatte zehn Tage Urlaub genommen. Er fuhr den Minibus, baute auf der Bühne die Bar mit dem Ei und der Rose auf, kümmerte sich um Licht und Ton und reservierte die Hotels und die Restaurants, in denen sie nach der Vorstellung speisten.
Jo wirkte wie die Replik seines Vaters. Und wenn sie Arm in Arm auf den Terrassen der Bistros saßen, ihre Mojitos schlürften und lachten wie die Kinder, hätte man meinen können, sie wären zwei Ausgaben unterschiedlicher Generationen von ein und derselben Person.
Aber mit diesen äußerlichen Dingen hörte die Ähnlichkeit auch auf. Jos Leben war in eine Sackgasse geraten, der Alte dagegen genoss das seine noch immer in vollen Zügen.
Mit seinen dreißig Jahren hatte Jo das Gefühl, dass das Leben für ihn gelaufen war. Noch bevor er irgendetwas auf die Beine gestellt hatte. Und das Bild seines Vaters, der andauernd Luftschlösser baute, führte ihm seinen Mangel an Perspektiven umso deutlicher vor Augen.
Nach Nieves Tod fühlte Jo sich wie ein Witwer, er hatte keine neue Gefährtin gefunden. Er hatte keine Freunde und sprach so gut wie mit niemandem. Das ging so weit, dass Jo sich manchmal wie ein virtuelles Bild fühlte, das jugendliche Spiegelbild seines Vaters.
Der Alte feierte an jenem Abend in Matanzas einen Triumph und am Ende schlugen sich die Frauen um die Rose.
»Hast du die Indianerin hinter den Kulissen nicht gesehen?«, fragte Jo, als sie auf einer Restaurantterrasse am großen Platz zu Abend aßen. »Sie hatte ihre Bluse aufgeknöpft und dir ihre großen Brüste hingestreckt. Du hättest sie nur noch zu pflücken brauchen, sie war reif! Sieh mal, da hinten ist sie! Sie isst an der Bar ein Eis und starrt dich an. Wenn du dich nicht ihrer annimmst, entgeht ihr etwas Großartiges!«
»Ein bisschen Ruhe tut mir auch mal ganz gut. Geh du zu ihr, sie ist in deinem Alter!«, rief der Alte, wobei er seinen Sohn liebevoll in den Nacken fasste. »Wenn ich dich schweigsamen Jungen so sehe, kann ich kaum glauben, dass du mit Anne verheiratet warst. Sie hat mich zum Flughafen gebracht, wusstest du das?«
»Nein, das wusste ich nicht. Habt ihr über mich gesprochen?«
»Oft. Sie hat gesagt, dass sie uns gern besuchen würde. Sie wartet auf ein Zeichen von dir.«
»Ich fühle mich nicht gut, Papa …«
Das war das erste Mal, dass Jo den Alten Papa nannte, und man konnte sehen, dass er den Tränen nahe war.
»Ich fühle mich nicht gut, ich habe das Gefühl, alles falsch gemacht zu haben … Und wenn ich dich sehe, geht es mir noch schlechter … Ich bewundere dich so sehr, ich wäre so gern optimistisch wie du …«
Ein Musikertrio stand auf einmal neben ihnen und begann zu singen:
»Ausencía quiere decir olvido
Decir tinieblas
Decir jamás
Los aves suelen volver al nido
pero las almas
que se han querido
Cuando se alejan
No vuelven más«
»Das Lied hat Recht, Vögel kehren zu ihrem Nest zurück, doch die Seelen der geliebten Menschen kehren nie mehr zurück, wenn sie einmal fortgeflogen sind! … Weißt du, Papa, ich habe fast jeden Tag Lust, Anne anzurufen, um sie zu bitten, zu mir zu kommen, doch dann sage ich mir, dass ich sie nicht verdiene und dass es besser ist, wenn ich alleine bleibe, solange ich nicht weiß, was ich mit meinem Leben anfangen soll.«
»Un beso gran poeta! En mis brazos amor!«
Das war die Indianerin, die Pedro schon an ihre Brust gedrückt hatte. In gebrochenem Französisch fügte sie hinzu: »Lad mich auf ein Glas ein, Poet!«
»Gleich, Madame«, erwiderte der Alte und versuchte, sich so gut es ging von ihr zu lösen. »Ich rede gerade mit meinem Sohn … gleich.«
»Dein Sohn? Wie hübsch er ist!«, rief die Indianerin und umarmte nun Jo. Dann nahm sie seine Hand wie die eines Kindes. »Na los, komm schon, amor, du kannst später mit Papa reden.«
»Geh, Kleiner!«, sagte der Alte mit einem zärtlichen Lächeln. »Du musst deine Einsamkeit durchbrechen.«
Während die Indianerin ihn zur Bar zog, warf Jo seinem Vater einen verzweifelten Blick zu. Als würden sie sich nie mehr wiedersehen.
Pedro blieb allein zurück, umringt von den drei Musikern. Sie waren unglaublich mager und versanken in ihren Hosen.
»De tu querida presencia
Comandante Che Guevara!«
»O nein, nicht das! Bitte nicht den Che!«, jammerte der Alte.
Er konnte dieses Lied nicht
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