Liebe und Vergeltung
Seite bringt. Und diese Kunst beherrschen Sie vorzüglich! Es läßt sich auch nichts dagegen sagen. In der Tat, ein gewinnendes Wesen zu haben, ist der halbe Erfolg im Leben. Ich rate Ihnen jedoch, diese Redewendung nicht zu benutzen. Sie ist umgangssprachlich und gehört nicht in einen gepflegten Wortschatz.“
„Ich werde es mir merken“, versprach Mikahl bereitwillig. „Sie haben recht, Madam. Ich bin nicht ganz unerfahren im Umgang mit westlichen Sitten. Dennoch bin ich zum ersten Male in London und finde es überwältigend.“
Diese Behauptung zweifelte Sara an, verfolgte das Thema jedoch nicht weiter. Schweigend beobachtete sie den Prinzen ein Weilchen, der geschickt die Karriole durch die belebten Straßen kutschierte, und äußerte dann anerkennend: „Sie sind ein guter Fahrer, Sir. Haben Sie das in Kafiristan gelernt?“
„Nein. Dort gibt es keine Kutschen, nicht einmal richtige Straßen. Dank der schroffen, steilen Berge, die man höchstens auf schmalen und sehr gefährlichen Wegen passieren kann, haben die Kafiren sich die Unabhängigkeit bewahrt.“
„Die Unzugänglichkeit des Landes ist wohl auch der Grund, warum sich so wenige Europäer nach Kafiristan wagen.“
„Ja.“ Mikahl furchte die Stirn und sagte ernst: „Als ich Sie gestern sah, gewann ich den Eindruck, daß Sie viel Kummer erlebt haben. Hatten Sie einen Unfall, oder litten Sie an einer längeren Krankheit?“
„Eines sollten Sie sofort lernen, Sir“, antwortete Sara irritiert. „Es gehört sich nicht, persönliche Fragen zu stellen. Wenn jemand möchte, daß Sie mehr über ihn erfahren sollen,
wird er es Ihnen freiwillig erzählen.“
„Auch das werde ich mir merken“, versicherte Mikahl, blickte Lady Sara an und sah, daß sie etwas die Farbe verloren hatte. „Ist das leichte Nachziehen des rechten Beines die Folge eines Malheurs?“
„Sie sind unverbesserlich!“ erwiderte Sara verstimmt und seufzte. „Also gut, wenn Sie es unbedingt wissen wollen, werde ich es Ihnen sagen. Es ist ja auch kein Geheimnis. Im Alter von achtzehn Jahren, nach meiner ersten Saison, hatte ich einen Reitunfall. Ich war schon oft über die Mauer gesprungen, doch damals muß ich nicht genügend konzentriert gewesen sein. Gossamer, meine Stute, rammte sie, stürzte und begrub mich unter sich. Sie hatte sich einen Vorderlauf gebrochen und mußte erschossen werden. Zunächst dachten die Ärzte, auch ich müßte sterben, und dann lautete die Diagnose, daß ich nie mehr richtig gehen könnte.“
„Der Heilungsprozeß hat sicher sehr lange gedauert.“ „Jahre! Ich säße heute noch im Rollstuhl, wäre Alastair nicht von einer seiner Reisen nach Hause gekommen. Er hat mir nicht gestattet, in Selbstmitleid zu ertrinken. Mit seiner einfühlsamen Unterstützung lernte ich wieder gehen und das Leben zu genießen. Und dann, als ich endlich neue Freude an meinem Dasein fand, wurde meine Mutter bettlägerig.“
„Und Sie haben sie selbstverständlich aufopfernd gepflegt.“ „Ja, bis zu ihrem Tod.“
„Jetzt begreife ich, warum Sie nicht früher geheiratet haben. Gab es vor dem Unfall einen Mann in Ihrem Leben?“
Ein harter Zug erschien um Lady Saras Lippen, und ein bestürzter Ausdruck in ihren Augen. „Können Sie Gedanken lesen?“ fragte sie mit belegter Stimme. „Oder haben Sie Erkundigungen über mich eingezogen? Allerdings haben nicht viele gewußt, daß Spencer mir gefiel.“
Der Schmerz in Lady Saras Blick machte Mikahl betroffen. Auf die Straße schauend, antwortete er ruhig: „Nein, ich kann weder in Sie hineinsehen, noch habe ich mich über Sie informiert. Ich bin nur zu der Schlußfolgerung gelangt, daß Sie sich während der Saison bestimmt in jemanden verliebt hatten.“
„Natürlich“, bekannte Sara achselzuckend. „Ich war noch sehr jung und töricht. Spencer und ich waren nicht verlobt, aber die Ehe galt als beschlossene Sache. Nach meinem Unfall änderte er die Meinung. Es ist verständlich, daß er sich nicht an eine verkrüppelte Frau binden wollte.“
„Sie sind doch kein Krüppel, Madam“, widersprach der Prinz kopfschüttelnd. „Dieser Spencer war ein Narr! Wie kann man auf ein Juwel verzichten, nur weil die Fassung ein wenig beschädigt ist. Schönheit gewinnt doch erst an Charakter, wenn sie nicht nur glatt und poliert ist.“
„So etwas dürfen Sie nicht äußern, Hoheit“, wandte Sara verwirrt ein. „Es klingt, als wollten Sie mir schmeicheln.“ „Ich habe nur die Wahrheit gesagt“, widersprach
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