Liebe und Vergeltung
sie durch das geöffnete Doppeltor in den Stall.
Sie hatte gewußt, daß er stark war, doch nun spürte sie, daß seine Kraft sie aufwühlte und aus dem inneren Gleichgewicht brachte. Sie mußte sich sehr beherrschen, um nicht zu zittern, als er sie auf einer Bank absetzte. Dem sinnlichen Fluidum dieses faszinierenden Mannes fühlte sie sich hilflos ausgeliefert. Glücklicherweise schien er nicht zu bemerken, was in ihr vorging.
„Sie werden laufen können, sobald Sie sich ein wenig ausgeruht haben“, sagte er zuversichtlich. „Aber in die Stadt zurückreiten können Sie nicht.“
„Ich bedauere sehr, daß ich Ihnen solche Umstände mache“, murmelte Sara und senkte verlegen den Blick.
„Ich sagte schon einmal, daß Sie sich nicht entschuldigen müssen, Madam“, entgegnete Mikahl warmherzig und berührte sacht ihre Wange. „Es ist doch keine Katastrophe, zum
Torhaus zu reiten und dem Wächter den Auftrag zu geben, uns eine Droschke zu beschaffen.“
„Ach, es ärgert mich, daß ich so unbeholfen bin!“ erwiderte Sara bedrückt.
„Aber der Schmerz als solcher ist oft leichter zu ertragen als die Angst vor Qualen!“
Sara schaute den Prinzen an und war berührt von dem, was sie in seinen Augen sah. Bis jetzt hatte er nie zu erkennen gegeben, was er empfand, doch nun erkannte sie, daß er ein Mensch war, der ebenfalls viel gelitten haben mußte. Die Erkenntnis tröstete sie, und mit einem schwachen Lächeln äußerte sie leise: „Sie haben ein erstaunliches Einfühlungsvermögen, Sir.“
„So erstaunlich ist es nicht“, widersprach er und fügte in sprödem Ton hinzu: „Ich bin gleich zurück.“ Er verließ den Stall, brachte die Stute herein und band sie an einem Pfosten an. Eilig ging er wieder hinaus, und nur einen Moment später klapperten Hufe über das Kopfsteinpflaster.
Seufzend rieb Sara sich die immer noch schmerzende Hüfte. Die Folgen ihres Handelns würde sie gewiß noch morgen spüren, doch in einigen Tagen konnte sie sicher wieder im Sattel sitzen, wenn sie sich zunächst damit begnügte, im Park auszureiten. Aber dann, sobald sie die nötige Kraft im Bein hatte, würde sie meilenweite Ausflüge unternehmen.
Sie lehnte sich an die Wand und machte die Augen zu. Unvermittelt kam sie sich töricht und albern vor. Ihr Herz hatte nur deshalb dem Prinzen entgegengeschlagen, weil sie schwach und hilfsbedürftig und er freundlich und zuvorkommend gewesen war. Sie nahm sich vor, sich in Zukunft nicht mehr so leicht beeinflussen zu lassen.
Langsam stand sie auf und schritt zaghaft, sich sorgsam an den Boxen abstützend, den Mittelgang des Stalles entlang. Sie fand es ratsamer, sich etwas zu bewegen, statt an den Prinzen zu denken, dessen verwirrende Nähe sie in eine ihr vollkommen fremde Frau verwandelte.
9. KAPITEL
Mikahl ritt zum Herrenhaus zurück und überlegte, wie er weiter vorgehen sollte. Eigentlich hatte er beabsichtigt, einen wichtigen Schritt zu unternehmen, der Lady Sara St. James von ihrem Verlobten trennen sollte.
Es war unübersehbar, daß sie vom ersten Augenblick an Gefallen an ihm gefunden hatte. Aber sie war zu unerfahren, um es sich einzugestehen. Selbst wenn sie sich über die Gefühle für ihn im klaren gewesen wäre, hätten Erziehung und moralische Einstellung es ihr verboten, ihre Neigung offen zu zeigen. Da er überzeugt war, daß sie nicht viel für Weldon empfand, hatte er beschlossen, sie zu verführen. Andererseits konnte er sich nicht entschließen, das in einem Moment zu tun, da sie von Schmerzen geplagt wurde. Er hätte darauf bestehen sollen, die Reise nach Sulgrave Manor in einer Kutsche zu unternehmen. Aber Lady Saras Mut und Entschlossenheit hatten ihn umgestimmt. Ihre Tapferkeit beeindruckte ihn noch immer, obgleich er nun zu einer Änderung der Pläne genötigt war.
Stirnrunzelnd näherte er sich den Stallungen. Der Wunsch, einen Landsitz zu kaufen, war Teil seiner Strategie, einen festen Platz im englischen Gesellschaftsleben zu finden. Aber es hatte ihn überrascht, wie stark sein Verlangen war, dieses Anwesen zu erstehen. Es war gefährlich, etwas zu sehr zu lieben, denn Anhänglichkeit machte verwundbar. Ärgerlich ermahnte er sich, in diesem Punkt seinen Gefühlen nicht zu große Bedeutung beizumessen. Sulgrave Manor war nur ein Haus, ein sehr ansehnliches und begehrenswertes zwar, aber eben nur ein lebloser Gegenstand. Vielleicht würde er sich eines Tages, wenn er sein Ziel erreicht hatte, des Besitzes erfreuen, doch in der Zwischenzeit
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