Liebe und Verrat - 2
»Seltsam« ist kaum das Wort, das dem Verhalten meiner Schwester im vergangenen Jahr gerecht wird. »Aber seit du weg bist … nun, ihre Veränderung ist wahrhaftig beängstigend.«
Bis vor Kurzem habe ich mich von Alices Aktivitäten weitgehend abgeschottet, und ich merke, dass ich die relative Ahnungslosigkeit nicht loslassen möchte, auch wenn es ein Fehler ist. Denn die Erfahrung hat mich gelehrt, dass man eine Schlacht nur dann gewinnen kann, wenn man so viel wie möglich über den Feind weiß. Selbst wenn der Feind die eigene Schwester ist.
Sonias Stimme klingt laut in der Stille. »Was meinen Sie damit, Miss Virginia?«
Tante Virginia lässt ihren Blick von Sonia zu mir schweifen und senkt ihre Stimme, als ob sie Angst hat, dass wir belauscht werden würden. »Sie übt sich zu allen möglichen und unmöglichen Stunden – auch tief in der Nacht – in ihren Zaubersprüchen. Und zwar im Zimmer deiner Mutter.«
Im dunklen Zimmer.
»Sie beschwört entsetzliche Kreaturen. Sie spricht verbotene Zaubersprüche. Aber am schlimmsten ist, dass sie mächtiger geworden ist, als ich mir je hätte vorstellen können.«
»Warum bestrafen die Grigori sie nicht dafür, dass sie verbotene Magie einsetzt? Dass sie überhaupt Magie in unserer Welt benutzt. Das ist doch nicht gestattet. So jedenfalls hast du es mir gesagt.« Hysterie lässt meine Stimme schrill klingen.
Sie nickt langsam. »Aber die Grigori haben nur Einfluss auf die Anderswelten. Die Strafen, die sie verhängen, sind an die Grenzen der Anderswelten gebunden. Die Grigori haben Alice bereits verbannt. Ich weiß, es ist schwer zu glauben, Lia, aber sie ist unglaublich vorsichtig und ebenso unglaublich mächtig. Sie bewegt sich in den Anderswelten, ohne dass die Grigori sie bemerken, ähnlich wie du mit den Schwingen reist und dabei die Seelen hinters Licht führst.« Tante Virginia zuckt mit den Schultern. »Ihre Aufsässigkeit ist ungeheuerlich. Aber es gibt nicht viel, was die Grigori jemandem androhen können, der zur wirklichen Welt gehört. Ansonsten würden sie selbst Grenzen überschreiten, die nicht überschritten werden dürfen.«
Verwirrt lege ich den Kopf schräg. »Wenn die Grigori Alice aus den Anderswelten verbannt haben, müsste sie doch unter Kontrolle sein.« Wut und Verzweiflung sorgen dafür, dass ich die Worte fast ausspucke.
»Es sei denn …«, sagt Sonia langsam.
»Es sei denn – was?« Zu meiner wachsenden Hysterie gesellt sich Panik, brodelt in meinem Magen und verursacht mir Übelkeit.
»Es sei denn, sie kümmert sich einfach nicht darum«, mischt sich Luisa ein, die neben Tante Virginia auf dem Sofa sitzt. »Und genauso ist es, Lia. Es kümmert sie nicht, was die Grigori tun oder sagen. Sie kümmert sich nicht um ihre Regeln und Strafen und sie fragt sie nicht um Erlaubnis. Sie braucht sie nicht, nicht mehr. Sie ist viel zu mächtig geworden.«
Eine Weile bleiben wir alle still und trinken unseren Tee, mit dem Bild einer übermächtigen und ungebändigten Alice vor Augen. Tante Virginia bricht schließlich das Schweigen, wobei sie das Thema wechselt.
»Es gibt noch einen Grund, warum wir hier sind, Lia, obwohl diejenigen, die ich bereits genannt habe, schon ausreichen würden.«
»Was denn? Was gibt es noch?« Ich kann mir nicht vorstellen, welches Ereignis Tante Virginia noch dazu bringen könnte, Hals über Kopf New York zu verlassen und übers Meer nach London zu fahren.
Tante Virginia seufzt. »Es geht um Tante Abigail. Sie ist sehr krank und sie bittet dich, umgehend nach Altus zu kommen.«
»Ich hatte sowieso vor, bald dorthin zu reisen. Ich hatte so ein … Gefühl. Wegen Alice.« Ohne weiter darauf einzugehen, fahre ich fort. »Aber mir war nicht bewusst, dass Tante Abigail krank ist. Wird sie wieder gesund?«
Trauer liegt in Tante Virginias Augen. »Ich weiß nicht, Lia. Sie ist sehr alt. Sie herrscht seit vielen Jahren über Altus. Vielleicht ist einfach ihre Zeit gekommen. Auf jeden Fall ist es höchste Zeit, dass du gehst, besonders in Hinblick auf Alices Entwicklung. Tante Abigail ist die Hüterin der Seiten. Nur sie weiß, wo sie verborgen sind. Wenn sie von uns geht, ohne dir mitzuteilen, wie man sie finden kann …« Sie muss nicht zu Ende sprechen.
»Ich verstehe. Aber wie soll ich den Weg nach Altus finden?«
»Edmund wird dein Führer sein«, sagt Tante Virginia. »Du wirst schon in wenigen Tagen abreisen.«
»In wenigen Tagen?«, wiederholt Sonia ungläubig. »Wie sollen wir uns in so kurzer Zeit
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