Liebe und Verrat - 2
gefährlicher, wenn man bedenkt, wie verzweifelt sie ist.«
Ich lasse die Worte einsinken und streiche dabei gedankenlos über das erhabene Mal auf meinem Handgelenk. Ich versuche eine Welt zu begreifen, die es erlaubt, dass meine Schwester, meine Zwillingsschwester, in meiner Abwesenheit ganz und gar dem Bösen anheimfällt. War es nicht genug, dass sie Henry in den Fluss stieß? Dass sie mich den Seelen überantworten wollte, indem sie Mutters Schutzzauber zerstörte? Aber selbst diese Überlegungen, diese Gedanken, die ich kaum die Kraft habe zu denken, bereiten mich nicht auf Edmunds nächste Worte vor.
»Und da ist noch die Sache mit James Douglas«, sagt Edmund.
Mein Kopf ruckt hoch. »James? Was ist mit ihm?«
Edmund betrachtet seine Hände, als würde er sie zum ersten Mal sehen, und ich weiß, dass er die Worte, die er aussprechen muss, innerlich verflucht. »Alice hat sich … mit Mr Douglas … angefreundet.«
»Angefreundet?« Ich schaffe es kaum, das Wort hervorzuwürgen. »Was meinen Sie mit ›angefreundet‹?«
»Sie besucht ihn im Buchladen, lädt ihn zum Tee ein …«
»Und er erwidert ihre Aufmerksamkeit?« Ich kann den Gedanken nicht ertragen, obwohl ich beschlossen habe, mich jeglichen Wunschträumen über eine Zukunft mit James zu verschließen, solange ich die Prophezeiung nicht zu einem guten Ende geführt habe.
Edmund seufzt. »Das zu behaupten, wäre übertrieben.« Seine Stimme ist freundlich. »Mr Douglas war … schockiert über Ihre überstürzte Abreise. Ich glaube, er ist sehr einsam, und Alice … nun, Alice sieht aus wie Sie. Sie ist Ihre Zwillingsschwester. Vielleicht klammert sich Mr Douglas in Ihrer Abwesenheit an Ihr Abbild … als Erinnerung.«
Mein Herz hämmert in meiner Brust. Ich glaube fast, dass Edmund es in der Stille zwischen den Bäumen hören muss. Ich stehe auf, weil ich befürchte, dass mir übel wird. »Ich … ich denke, ich gehe jetzt wohl besser ins Bett, Edmund.«
Er schaut zu mir hoch und blinzelt in dem schwachen, flackernden Feuerschein. »Ich habe Sie traurig gemacht, nicht wahr?«
Ich schüttele den Kopf und bemühe mich um eine feste Stimme. »Aber nein. Ich bin viel zu weit weg, um irgendeinen Anspruch auf James geltend zu machen.«
Edmund nickt und sein Gesicht legt sich in sorgenvolle Falten. »Ihr Vater und ich waren immer ehrlich zueinander, und obwohl Sie eine Frau sind, dachte ich, dass Sie dasselbe von mir erwarten.«
»Es ist gut. Mir geht es gut. Und Sie haben natürlich recht: Wir müssen ehrlich zueinander sein, auch wenn es schmerzvoll ist.« Ich lege ihm die Hand auf die Schulter. »Ich bin froh, dass Sie hier sind. Gute Nacht, Edmund.«
Seine Worte kommen mir nach, als ich mich zum Gehen wende. »Gute Nacht.«
Ich schaue nicht zurück. Auf dem Weg zu meinem Zelt sind es weder die Worte der Prophezeiung in Vaters verstecktem Buch, noch ist es meine Schwester, die ich vor mir sehe. Stattdessen sehe ich das brunnentiefe Blau von James Douglas’ Augen.
Ich hätte nicht gedacht, dass ich in unserer ersten Nacht im Wald mit den Schwingen reisen würde. Ich bin müde. Völlig erschöpft. Mich verlangt es nach nichts anderem als nach dem traumlosen Schlaf, der immer seltener zu mir kommt, je mehr ich mich in der Prophezeiung verstricke.
Und doch zieht es mich in die Anderswelten. Wieder einmal habe ich das mittlerweile vertraute Gefühl, mich in einem Traum zu befinden, der mehr ist als ein Traum.
Ich verspüre nicht den Zwang einer Beschwörung, jedenfalls nicht direkt. Das ist etwas, das ich immer ganz deutlich merke – eine Art Ruf, der mir sagt, dass jemand in den Anderswelten auf mich wartet.
Diesmal ist es anders.
Ich weiß, dass es einen Grund dafür gibt, warum ich mit den Schwingen reise. Ich weiß, dass ich etwas sehen oder erkennen soll, aber mein Ziel scheint von etwas kontrolliert zu werden, das komplexer ist als ein einzelnes Wesen. Ich erlebe das nicht zum ersten Mal. Es ist, als ob das Universum selbst mich durch das Reich der Anderswelten zieht, hin zu einer Erkenntnis, die von großer Bedeutung für mich ist.
Ich fliege über einen Wald, von dem ich instinktiv weiß, dass es derjenige ist, in dem mein schlafender Körper liegt – derjenige, durch den wir tagsüber geritten sind. Die Bäume stehen dicht an dicht, und ich fliege so schnell über die Wipfel, dass das Grün unter mir aussieht wie ein dichter, weicher Teppich.
Zunächst kann ich unter dem Gewirr aus Laub nichts erkennen, aber schon bald bewegt
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