Liebe und Verrat - 2
»Weil sie alles in ihrer Macht Stehende tun werden, Lia, um zu bekommen, was sie wollen. Ihnen ist nichts lieb und teuer, nichts ist ihnen heilig. Nichts außer der Macht, die sie begehren. Denk immer daran, Lia. Vergiss es nie. Daran musst du dich erinnern. Du musst.«
18
Als wir unser Lager für die Nacht aufschlagen, befinde ich mich in einem Zustand höchster Bewusstseinsempfindung. Ich habe das Gefühl, dass ich, selbst wenn ich dürfte, nicht würde einschlafen können, obwohl ich noch nie körperlich so erschöpft war wie jetzt. Aber während Luisa und Sonia in ihren getrennten Zelten untergebracht werden und sich die nächtliche Ruhe über das Lager legt, gelange ich trotzdem zu der Überzeugung, dass ich nur durch andauernde Bewegung in Verbindung mit ständigem Nachdenken wach bleiben kann.
Ich spaziere um das Lager herum, während Edmund und Dimitri die Pferde versorgen. Später wird sich Edmund vor Sonias Zelt setzen und Wache halten, wie er es auch in den vergangenen Nächten getan hat. Ich weiß immer noch nicht, ob er mich schützen will oder sie vor sich selbst. Ich war zu müde, um zu fragen.
Ich gehe langsam und denke dabei nach. Ich versuche, in die Zukunft zu schauen, stelle mir vor, was nach unserer Reise sein wird, wenn ich bei Tante Abigail in Altus sein werde, und noch weiter bis zu der Reise nach dieser – jener Reise, die mich zu den fehlenden Seiten führen wird. Es tut gut, sich mit solchen Gedanken abzulenken.
»Darf ich dir Gesellschaft leisten?« Die Stimme nah an meiner Schulter schreckt mich aus meinen Gedanken – und aus meiner aufkeimenden Schläfrigkeit.
Ich bleibe nicht stehen, sondern drehe nur den Kopf zu der Seite, wo Dimitri jetzt neben mir herläuft.
Ich schüttele den Kopf. »Das ist nicht nötig, Dimitri. Du solltest schlafen. Ich komme schon zurecht.«
Er kichert. »Mir geht es gut. Merkwürdigerweise bin ich viel wacher, als man es erwarten sollte.«
Ich lächle ihn an. »Trotzdem. Ich erwarte, dass du mich sicher nach Altus bringst. Wenn du übermüdet bist, könnte es passieren, dass wir auf einer ganz anderen Insel landen!«
Er nimmt meine Hand. »Ich versichere dir, dass ich genauso wach und munter bin wie an dem Tag, an dem wir uns begegneten. Ich sagte dir doch, dass ich nicht auf die gleiche Weise wie du der Ruhe bedarf.«
Ich lege den Kopf schräg und schaue ihn im Gehen an. »Und warum nicht? Bist du … nicht sterblich?«
Er wirft den Kopf in den Nacken und lacht in den dunkelblauen Himmel. »Aber natürlich bin ich sterblich! Wofür hältst du mich? Für einen Höllenhund?« Scherzhaft fletscht er die Zähne und knurrt.
Ich verdrehe die Augen. »Sehr witzig. Kannst du mir meine Frage verübeln? Wie sonst ist es möglich, dass du keinen Schlaf brauchst?«
»Nun, ich habe nie behauptet, dass ich gar keinen Schlaf brauche, nur dass ich wesentlich länger ohne ihn auskomme als du.«
Ich funkele ihn von der Seite her an. »Ich glaube, du weichst mir aus. Also bitte, wir werden doch jetzt – unter diesen Umständen – keine Geheimnisse mehr voreinander haben!« Der neckische Schlagabtausch macht mir Spaß. Ich fühle mich wieder fast normal. Als ob wir an einem schönen Sommertag durch einen von Londons zahlreichen Parks spazieren würden.
Er seufzt. Sein Blick ist ein bisschen traurig. »Ich bin genauso sterblich wie du, aber ich stamme väterlicherseits von einer der ältesten Linien im Geschlecht der Grigori ab, und mütterlicherseits von einer der ältesten der Schwesternschaft. Jeder meiner männlichen Ahnen, bis hin zu den Wächtern, ist eine Verbindung mit einer Schwester eingegangen. Deshalb sind meine … Gaben so außergewöhnlich. Jedenfalls behauptet man das.«
»Wovon genau redest du? Was für Gaben?« Ich bekomme langsam den Eindruck, dass er mir einige wesentliche Punkte verschwiegen hat.
Er drückt meine Hand. »Die gleichen Gaben, die du auch hast – die Fähigkeit, mit den Schwingen zu reisen, zu spähen, mit den Toten zu sprechen … Je direkter wir von den Wächtern und den Grigori abstammen, desto stärker wirkt ihre Macht in uns.«
Ich starre in die Nacht und versuche, mir über etwas klar zu werden. Etwas, das ich erst nicht greifen kann. Als es mir gelingt, wende ich mich rasch ihm zu.
»Du sagtest ›wir‹.«
»Ja.«
»Und wer ist ›wir‹?«, frage ich.
Er betrachtet mich mit einem leichten Lächeln. »Auch du stammst von einer alten Linie ab. Einer reinen Linie. Wusstest du das nicht?«
Ich schüttele den
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