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Liebe und Verrat - 2

Liebe und Verrat - 2

Titel: Liebe und Verrat - 2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Zink
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verloren hat –, damit Alice die Liste mit den Schlüsseln nicht in die Hände bekommt?
    Ich kuschele meinen Kopf an seine Schulter und atme den Duft der Wolle seiner Jacke ein. Der Wald sieht aus diesem Blickwinkel merkwürdig aus – als ob er seitwärts gekippt wäre. Er kommt mir plötzlich fremd und dunkel vor, nur noch entfernt vertraut. Ich lasse es zu, dass mir die Augen zufallen, und sinke in die herrliche Leere des Schlafes. Es ist ein Gefühl, das mir unendlich kostbar vorkommt, weil ich in den vergangenen Tagen und Nächten erfahren habe, dass es nicht selbstverständlich ist.
    Ich würde gerne behaupten, dass ich einen kurzen Moment des Friedens empfinde. Dass ich mir ein paar Minuten der Ruhe stehle. Und vielleicht ist das tatsächlich so. Aber schon im nächsten Augenblick werde ich von einem heftigen Wind gebeutelt. Nein, das stimmt nicht. Der Wind weht durch mich hindurch. Er kommt von einem Ort, der sich in meinem Inneren geöffnet hat.
    Blitzartig zuckt vor meinem inneren Auge das Bild des Meeres auf, wie es in den vielen Sommern war, die Alice und ich auf der Insel verbracht haben. Wir lernten dort schwimmen. Wir standen am Strand, wo das Wasser gegen unsere Füße rauschte, und staunten über die Kraft des Ozeans, dem es gelang, so viel Sand mit zurück in die Tiefe zu reißen. Wir fühlten uns wie vor einem ausgehöhlten Abgrund. Und so fühle ich mich gerade jetzt. Als ob sich irgendetwas in mir geöffnet hätte und alles Wichtige, einfach alles, aus mir heraussaugen würde, an einen fremden, unbekannten Ort, bis nur noch eine leere Hülle am Strand steht.
    »Li-a! Wo bist du, Lia?« Die Stimmen kommen aus weiter Ferne. Mir fehlt die Kraft, meine Augen zu öffnen und ihnen entgegenzublicken. Außerdem ist es an Henrys Schulter so gemütlich. Sie ist stark und fest unter meiner Wange. Ich würde gerne für immer so liegen bleiben.
    Aber der kostbare Schlaf, das Vergessen, bleibt mir verwehrt. Stattdessen werde ich durch ein heftiges Schütteln geweckt und dann – welch eine Unverschämtheit – mit einem festen Schlag ins Gesicht bedacht.
    »Lia! Was soll das?« Ich schaue in Luisas Gesicht.
    »Ich ruhe mich nur aus. Mit Henry.« Meine Worte klingen schleppend, kaum verständlich, sogar für mich selbst.
    »Lia … Lia, hör mir zu!«, beschwört mich Luisa, während Dimitri und Edmund hinter ihr auftauchen. Ihr Atem geht schwer, als ob sie gerannt wären. »Henry ist nicht hier. Man hat dich in böser Absicht in den Wald gelockt!«
    Empörung bahnt sich ihren Weg durch die Schwere in meinem Kopf. »Natürlich ist er hier! Er passt auf mich auf, während ich schlafe, und dann wird er mir alles sagen, was wir wissen müssen, um sicher nach Altus zu gelangen.«
    Aber als ich mich nach Henry umschaue, sehe ich, dass ich nicht auf einem umgefallenen Baumstamm sitze, sondern auf der nackten Erde liege, inmitten des toten Laubs. Ich blicke mich um, an Luisa vorbei, an Dimitri und an Edmund. Henry ist nirgends zu sehen. »Aber er war da! Noch vor einem Augenblick!«
    Ich rappele mich auf, und Dimitri eilt zu mir, um mich zu stützen. Eine Sekunde lang fürchte ich, das Gleichgewicht zu verlieren. Als ich mich gefangen habe, drehe ich mich langsam im Kreis und suche den Wald nach einer Spur meines Bruders ab. Aber ich weiß bereits, dass er nicht da ist. Er war niemals da. Ich vergrabe das Gesicht in den Händen.
    Dimitri zieht sie weg und umfasst meine Finger mit seinen Händen. »Schau mich an, Lia.«
    Aber ich schäme mich. Ich, ausgerechnet ich habe mich in den Schlaf locken lassen. Habe zugelassen, dass die Seelen meine Liebe zu meinem Bruder ausnutzen. Ich schüttele den Kopf.
    »Schau mich an.« Er lässt meine eine Hand los und umfasst mein Kinn, hebt es sanft an, sodass ich ihm in die tintenschwarzen Augen schauen muss. »Es ist nicht deine Schuld. Hörst du? Du bist stärker als wir alle zusammen, Lia. Aber du bist nur ein Mensch. Es ist ein Wunder, dass du nicht schon früher unter ihren Bann geraten bist.«
    Ich entziehe ihm meine Hand und drehe mich um, gehe davon. Aber bereits nach ein paar Schritten holt mich der Zorn ein und ich wirbele wieder herum. »Sie haben meinen Bruder missbraucht! Sie haben … Von allem, was mir lieb und teuer ist, haben sie ausgerechnet ihn missbraucht. Warum? Warum?« Meine vor Rage zitternde Stimme verhallt zu einem jämmerlichen Flüstern.
    Dimitri ist mit zwei Schritten bei mir. Er nimmt meinen Kopf sanft zwischen seine Hände und schaut mir in die Augen.

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