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Liebe und Verrat - 2

Liebe und Verrat - 2

Titel: Liebe und Verrat - 2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Zink
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diesmal legt er einen Finger an seine Lippen, bittet mich zu schweigen. Dann winkt er mich zu sich.
    Ich schaue wieder zu den anderen, die sich immer noch um die Pferde kümmern oder einen Moment ausruhen, ehe wir weiterreiten. Sie werden nicht merken, wenn ich mich ein paar Sekunden lang entferne, und eine solche Gelegenheit kann ich nicht ungenutzt verstreichen lassen: Die Gelegenheit, zum ersten Mal seit seinem Tod mit meinem Bruder zu sprechen.
    Ich gehe auf die Baumlinie am Rand der kleinen Lichtung zu. Ich zögere keine Sekunde, sondern trete in den belaubten Schatten des Waldes ein. Henry dreht sich um und geht tiefer ins Unterholz. Es überrascht mich nicht, dass er laufen kann. Der Tod hat ihn von seinen nutzlosen Beinen befreit, und von dem Rollstuhl, der ihm Hilfe und Fluch zugleich war.
    Seine Stimme dringt durch den Nebel zu mir. »Lia! Hierher, Lia! Ich muss mit dir reden.«
    Ich antworte ihm leise, weil ich die anderen nicht aufschrecken will. »Aber ich kann nicht lange bleiben, Henry. Ich muss gleich wieder zurück.«
    Er verschwindet hinter einem der unzähligen Bäume, doch seine Stimme klingt immer noch klar und deutlich. »Schon gut, Lia. Ich will nur kurz mit dir reden. Du bist gleich wieder bei den anderen.«
    Ich folge ihm und erreiche schließlich den Baum, hinter dem er verschwunden ist. Erst denke ich, dass mir meine Fantasie einen Streich gespielt hätte, weil ich ihn nirgends sehe. Dann entdecke ich ihn zu meiner Linken. Er sitzt auf einem umgestürzten Baumstamm.
    »Henry.« Mehr kann ich nicht sagen. Ich habe Angst, dass er wieder verschwinden wird, wenn ich die Stille breche.
    Er lächelt. »Lia. Komm her und setz dich zu mir.«
    Er klingt wie früher, und ich habe keine Angst, weil ich ihn hier in den Wäldern der irdischen Welt sehe. Die Wege der Anderswelten und der Verlauf der Prophezeiung sind mannigfaltig und unvorhersehbar. Es gibt kaum noch etwas, was mich nach all dem, was ich gesehen und erlebt habe, zu überraschen vermag.
    Ich gehe zu ihm und lasse mich neben ihm nieder. Ich schaue in seine Augen. Sie sind noch genauso dunkel und unendlich, wie ich sie in Erinnerung habe. Es sind die Augen meines Vaters, tief und warm, und einen Moment lang ist meine Trauer so überwältigend, dass mir der Atem stockt.
    Ich reiße mich zusammen. Ich habe keine Ahnung, wie viel Zeit uns bleibt. »Es ist so schön, dich zu sehen, Henry.« Ich streiche ihm über die seidige Wange. »Ich kann kaum glauben, dass du wirklich hier bist.«
    Er kichert. Der Klang schwebt wie Rauch durch den Wald. »Aber sicher bin ich hier, Dummchen. Ich wollte dich sehen.« Sein Gesicht wird ernst. Dann streckt er die Arme aus und umfasst mich in einer kindlichen Umarmung. »Ich habe dich so vermisst, Lia.«
    Ich atme seinen Duft ein, und es ist so wie früher. Es ist der Geruch seines Körpers, nach alten Büchern und nach den Wiesen von Birchwood. »Ich habe dich auch vermisst, Henry. Mehr als ich sagen kann.«
    Wir verharren eine kleine Weile so eng umschlungen, ehe ich mich widerstrebend von ihm löse. »Hast du Mutter und Vater gesehen? Geht es ihnen gut?«
    Er blickt mir in die Augen, und diesmal ist er es, der mir über die Wange streicht. Seine Fingerspitzen sind warm. »Ja, es geht ihnen gut. Ich habe dir so viel zu erzählen. Aber du siehst so müde aus, Lia. Es sieht so aus, als würde es dir nicht gut gehen.«
    Ich nicke. »Ich darf nicht schlafen. Wegen der Seelen, weißt du? Sie haben unsere Gemeinschaft unterwandert und Sonia mit ihrem Gift infiziert.« Ich strecke meinen Arm aus. »Jetzt bin ich die Einzige, die das Medaillon tragen kann. Und ich muss wach bleiben, bis wir Altus erreichen und Tante Abigail mir helfen kann.«
    In seinem Blick liegen Mitgefühl und Sorge. »Ja, aber du wirst nicht gegen die Seelen kämpfen können, falls es nötig wird, wenn du dich nicht ausruhst.« Er rückt ein Stück näher. »Leg deinen Kopf auf meine Schulter. Nur eine kleine Weile. Mach die Augen zu. Ein paar Minuten Ruhe werden dir den Rest der Reise erleichtern. Ich werde auf dich aufpassen. Ich verspreche es.«
    Er hat recht. Natürlich hat er recht. Es ist ein schweres Los, mich selbst vor dem Medaillon zu schützen und gleichzeitig auf einen Angriff der Seelen vorbereitet zu sein. Wenn ich mich ausruhe, kann ich mich besser darauf einstellen, was mich möglicherweise zwischen hier und Altus noch erwartet. Und wem könnte ich mehr vertrauen als meinem geliebten Bruder, der sein Leben riskiert – und

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