Liebe und Völkermord
zusammen und verschränkte ihre Arme vor ihrer Brust ineinander. Dann schüttelte sie den Kopf, drehte sich um und machte sich auf den Heimweg.
Er schloss langsam die Tür. Er hörte das Schnarchen seiner Mutter. Wie konnte sie nur so gut schlafen, nach dem, was draußen geschehen war, fragte er sich. Er schlich sich in das Wohnzimmer und blieb am Eingang stehen. Maria lag auf ihrer rechten Körperhälfte. Ihre Haare waren zerzaust, sie sah furchtbar aus. Alis Herz brannte, während er sie betrachtete. Er winselte. Maria hörte ihn nun und öffnete ihre Augen. Im Augenwinkel ihres linken Auges erkannte sie ihn und richtete sich sofort auf. Das hatte sie sich nicht vorstellen können, Ali weinte, er war also ein sensibler Mensch.
„ Was ist geschehen?“, flüsterte sie ihm zu. Sie hielt sich gestützt auf ihrem rechten Arm. In jedem Moment hätten seine Eltern hereintreten können.
„ Ich bin draußen gewesen und habe deinen Vater gesucht.“
„ Hast du ihn gefunden?“
Er schloss seine Augen. Tränen tropften aus ihnen heraus. Er schüttelte den Kopf. Sie unterdrückte ihr Klagen. Er verschwand hinter dem Wohnzimmereingang. Unbemerkt von seinen Eltern schlich er sich zurück auf seine Liegestelle.
Die Tochter des Isa legte sich zurück auf ihren rechten Arm. Sie weinte. Er hatte ihren Vater nicht gesehen, also war er entweder entkommen oder unterwegs von den Türken gefasst und erschlagen worden. Diese Ungewissheit plagte sie. Sie war nun ganz allein auf dieser Welt, dachte sie. Gott stellte sie auf eine harte Probe.
Ali starrte die Decke an. Er fragte sich, ob er je wieder seine Augen schließen und einschlafen würde können. Das Grauen verfolgte ihn. Sein Leben würde nie wieder wie zuvor sein. Er schwor sich, sich zu ändern. Nie wieder wollte er einen anderen Menschen verletzen, so wie er es mit den zahlreichen Frauen aus seiner Vergangenheit getan hatte. Mit den Gefühlen der Frauen wollte er nicht mehr spielen. Nur noch einer Frau wollte er all seine Aufmerksamkeit, all seine Liebe, schenken. Nur dieser Frau wollte er von nun an gehören. Ihr würde er den Rest seines Lebens treu sein. Und wer die Auserwählte war, hatte er bereits beschlossen: Maria.
Imam Musa Ibrahim hatte mit einer solchen Reaktion seines eigenen Geistes nicht gerechnet. Er hatte sich die vollkommene Auslöschung der Aramäer gewünscht. Nicht einmal die Wahl zur Konversion zum Islam und der damit einhergehenden Rettung ihres Lebens hatte er gewollt. Die Exekution des Abuna Malke hatte er zwar nicht befohlen, doch hatte er die Vollstrecker dazu motiviert. Gelacht hatte er, als der Abuna ihn enttäuscht anschaute und ihn fragte, warum er ihm das antue.
Endlich hatte er jene kostbare Ikonen der Christen in seinem Besitz. Er versteckte sie in seinem Schlafgemach, unter der Matte seiner Frau. Von nun an schlief er im Wohnzimmer, seine Frau sollte auf seiner Matte schlafen und sich bloß nicht auf ihre Matte legen.
Ihn plagte schon sein Gewissen. Seit dem Überfall der Türken hatte er das Minarett nicht bestiegen und das Dorf nicht zum Gebet gerufen.
Auch an diesem Morgen tat er es nicht. Er sagte zu Nurdschan, er sei krank. Nurdschan aber kannte ihn zu gut. Sie wagte es nicht, sich in die Angelegenheiten ihres Mannes einzumischen, denn ihr Ansehen bei der Gemeinde stand auf dem Spiel. Sie war eitel. Als sie ihren Mann die Ikonen in ihr Haus hereintragen sah, verachtete und verabscheute sie ihn. Zwar wusste sie, wie ihr Mann wirklich über den aramäischen Pfarrer dachte, einen Mord an dem Abuna durch ihn hatte sie aber nie für möglich gehalten. So weit wäre er nie gegangen, dachte sie. Von der wahren Rolle ihres Mannes bei diesen ethnischen Säuberungen wusste sie jedoch nichts. Sein Treffen mit dem Onbaschi hatte er vor ihr verschwiegen.
Er lag auf dem Rücken auf der linken Seite des Raumes. Er starrte die Decke an. Viele Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Abuna Malke hatte eine Frau, er hatte eine Familie. Wie fühlte sich nun seine Familie, fragte er sich. Was war mit all den anderen Familien?
Er sah ein, er hatte einen großen Fehler gemacht. Lieber hätte er sie zwangsislamisiert. Doch die Osmanen hatten Druck auf ihn ausgeübt. Er gab ihnen die Schuld an diesen Verbrechen. War er selbst doch nur ein Schäfchen, welches sich dem Willen seines Herrn fügte.
Nun fühlte er sich schon besser. Er selbst hatte keine Sünden begangen, dachte er. Allah würde ihn wegen keines dieser Vergehen anprangern. Seine Seele war
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