Liebe und Völkermord
Meridschan. Ja, sie hatte ihn angelogen, aber sie war nun in einer heiklen Lebenssituation. Sie hatte ihren Bruder bei den Massakern der Türken an den Aramäern verloren. Dies war quasi ein Opfer, welches sie beide aneinander band. Und er konnte sie nicht einfach so im Stich lassen. Und - das musste er sich eingestehen - er war immer noch in sie verliebt. Also schlich er sich um die Häuserecken zurück zu Meridschans Haus am südlichen Rand des Dorfes.
Sein Herz tobte. Er hastete die Zimmer des Hauses auf und ab, von der hinteren Ecke des Wohnzimmers bis zur Wand des Nebenzimmers und Korridors und wieder zurück. Warum hatte sie ihm nie etwas von diesem Ali erzählt, fragte er sich. Hatte sie also ein zweites Gesicht, führte sie also ein Doppelleben?
Verzweifelt ließ er sich zu Boden fallen, genau in dem Eingang zum Wohnzimmer. Ihm wurde es schwindelig, das Zimmer drehte sich vor seinen Augen. Doch er lachte. Jedoch war er nicht geisteskrank geworden. Er lachte über seine eigene Dummheit, seine Naivität. Vor sich sah er sich selbst, er betrachtete sich selbst, rein oberflächlich. Er war ein Kleinwüchsiger. Das war er nun einmal. Es sei doch nur logisch, was sie da gerade tue. Die Größe dieses Alis hatte er nicht. Er hatte aber seine Intelligenz und seine Belesenheit. Dann lachte er wieder. Er erkannte, offenbar galten diese Vortrefflichkeiten in den Augen der Frauen nicht. Zumindest nicht in Meridschans Augen. Zutiefst enttäuscht war er. So fragte er sich schließlich, was er denn noch in diesem Haus zu suchen habe. Diese Frau liebte ihn doch nicht und betrog ihn mit einem anderen Mann. Er war geflüchtet in ihre Arme. In ihren Armen hatte er Geborgenheit und Zärtlichkeit gesucht. Sie aber hatte anscheinend kein wirkliches Interesse an ihm.
Er stand auf und drehte sich um, er schaute lange Zeit die Haustür an. Sollte er wirklich wieder zurück nach Badibe, fragte er sich. Aber was hatte er denn dort zu suchen? Seine Familie würde ihn nicht mit offenen Armen empfangen. Auch nicht, wenn er ihnen von seiner glorreichen Tat erzählen würde, seine nächtliche Reise nach Kafro und die rechtzeitige Warnung der Kafroje vor dem Ansturm der osmanischen Armee. Sie würden wohl nur mit gelangweilter Miene und mit Seufzern seinem Bericht lauschen. Dort war aber Soraja. Dieses Roma-Mädchen hätte seine erste Wahl sein müssen. Nun war es wohl zu spät. Sie hatte ihn damals zusammen mit Meridschan in der Höhle erwischt und er hatte ihr Herz gebrochen. Zwar war sie am Tag des Angriffs der Türken auf Badibe zu ihm gekommen und war nicht von seiner Seite gewichen, aber dies hatte sie wohl mehr aus Mitleid für ihn getan, dachte er. Die Lage war wirklich sehr kompliziert für ihn geworden. Nun galt es gründlich zu überlegen und nicht noch einmal einen Fehler zu begehen.
Dann trottete er doch noch zurück ins Wohnzimmer und ließ sich auf die Matte fallen. Es wäre Irrsinn gewesen, sich jetzt um diese Uhrzeit auf den Weg nach Badibe zu machen. Die Sonne stand hoch oben, es war erst am frühen Nachmittag, und hie und dort würden wohl auch einige Menschen auf dem Landweg umherziehen. Hier war er in Sicherheit. Und auch wenn Meridschan offensichtlich nicht ehrlich zu ihm war, war seine Liebe dadurch nicht zerstört worden.
Nun überlegte er, ob er sie zur Rede stellen sollte wegen ihres mutmaßlichen Liebhabers Ali. Doch sie würde dann fragen, woher er das wisse und wenn er ihr verraten würde, er sei ihr gefolgt, würde sie garantiert wütend werden.
Und da war sie dann auch schon. Sie blieb mitten im Korridor stehen, als sie den auf der Matte liegenden Matthias erblickte. Er starrte die Wand auf der anderen Seite des Zimmers an. Er hatte sie gehört, doch reagierte er gar nicht und schaute nicht zur Tür. Sie verzog ihre Miene. „Was ist los mit dir, Matthias?“
Sein Gesicht war blass, er regte sich nicht. Innerlich versuchte er, seine Wut auf diese Frau zu unterdrücken. Sie legte den Eimer zur Seite und einen kleinen Sack, rannte zu ihm hin und bückte sich vor zu ihm. Ihr Gesichtsausdruck wurde strenger, sie machte sich Sorgen um ihren Freund. Er jedoch schüttelte den Kopf. „Es ist nichts. Ich konnte nicht gut schlafen. Ich musste an alles denken, was geschehen ist. Und ich mache mir Sorgen um meine Familie.“
Er schaute sie kein einziges Mal an. Meridschan hatte ihn noch nie mit dieser Einstellung gesehen. Er ignorierte sie.
Sie setzte sich auf ihre Matte hin und beobachtete ihn. Ihre Blicke
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