Liebe und Völkermord
aufgebraucht. Isa erteilte ihnen den Befehl, innezuhalten.
Den ganzen Abend über und auch am folgenden Tag gab es kein Beben.
Philoxenos und Isa hielten sich allein in der Sakristei auf.
Der Bischof bedankte sich bei Isa für seinen Einsatz. Isa verneigte sich vor ihm und küsste seine rechte Hand.
Sie schwiegen einen Moment lang. Beide Männer wussten, es hatte keinen Sinn, die Wahrheit über ihre miesere Lage nicht auszusprechen.
„ Wie lange werden wir es aushalten? Was nehmt Ihr an?“, fragte der Bischof Isa. Isa schaute nachdenklich und schüttelte den Kopf. „Wenn wir Glück haben noch zwei Wochen. Ich vermute, sie überschätzen uns und greifen uns deswegen nicht an. Das ist unser Glück. Doch wir werden uns entscheiden müssen. Entweder wir harren aus bis zum Ende oder wir schließen einen Waffenstillstand mit ihnen ab und hoffen, dass sie uns am Leben lassen.“
„ So schlecht sieht es um uns aus. Ich fürchte, es gibt keinen anderen Weg. Wir müssen bis zum Ende ausharren. Wir können ihren falschen Versprechungen nicht glauben. Sie werden uns alle töten.“
„ Ja, Eminenz. Das glaube ich auch.“
„ Möge Gott uns einen Erretter schicken! Ich weiß, er stellt uns auf eine harte Probe, aber er hat uns nicht vergessen!“
Isa nickte und drehte sich um. Seine Brust schmerzte. Er spürte es, irgendetwas befand sich in seinem Körper. Er unterdrückte den Schmerz. Philoxenos hingegen war kerngesund. Er hielt nach seinen Worten kurz inne und schaute dann Isa an. „Ist alles in Ordnung?“
Isa drehte sich um zum Bischof. „Ja, Eminenz.“
Skandar betrat den Raum. Er verneigte sich vor Philoxenos. „Verzeiht mir, Hochwürden. Sie haben einen Mann geschickt. Sie bieten uns einen Waffenstillstand an. Wenn wir unsere Waffen abgeben, würden sie uns alle am Leben lassen.“
Isa schüttelte den Kopf. Philoxenos ebenfalls. „Wieder versuchen sie es! Sag ihnen, wir trauen ihnen nicht. Wir werden ihnen unsere Waffen nicht übergeben! Haben sie etwas über Matthias und Bischof Ambrosiani gesagt?“
„ Nein.“
Philoxenos seufzte und schaute deprimiert drein.
Barsaumo zog sich in einen kleinen Raum auf der rechten Seite des Klosters zurück. Es war eine Abstellkammer. Hier lagen Tische, Bretter und Werkzeug überall herum. In der Ecke machte er sich Platz frei, dort saß und schlief er.
Früh morgens hörte er Kindergeschrei vom Gang her kommend. Der Lärm wurde irgendwann so unerträglich, er stand auf und ging zur Tür. Auf dem Gang sah er einen Jungen im Alter von vier Jahren allein. Er weinte. Er hatte große runde dunkelbraune Augen. Barsaumo blieb vor dem Jungen stehen und schaute ihn erst einmal schweigend an. Ihn überkam ein seltsames Gefühl. Er konnte sich nicht erklären, was es war.
Er streichelte die Haare des Jungen und sagte zu ihm, er müsse nicht weinen. Der Junge sagte, sein Vater sei krank geworden und würde wohl sterben. Barsaumo fragte ihn, wo sein Vater sei.
Der Junge führte ihn in den Innenhof und zeigte mit dem Zeigefinger seiner linken Hand auf die linke Ecke vor dem Tor. Barsaumo schritt voran, um besser sehen zu können. Vor und neben ihm lagen kranke Menschen. Sie keuchten, stöhnten, fluchten und klagten.
Dann hielt er inne. Musa aus der Charabale war der Vater des Jungen. Der Mann atmete schwer. Er lag quer zur Seite. Martha, seine Frau, saß neben ihm. Sie legte ein nasses Tuch auf seine Stirn.
Barsaumo erschrak plötzlich. Er trat zurück. Er eilte zurück zur Eingangstür des Ganges. Der Junge folgte ihm. Als er die Tür seines Raumes beinahe erreicht hatte, drehte er sich um und sah wieder den Jungen. Er blieb stehen und ging auf ihn zu. „Wie heißt du?“
„Gabriel.“
Barsaumo schaute ihm eine ganze Weile lang in die Augen. Gabriel verstand nicht, warum der Mann ihn so anstarrte.
Dann verzog Barsaumo sein Gesicht und seufzte. „Geh zu den anderen Kindern! Und weine nicht um deinen Vater! Er wird es überleben.“
Gabriel blieb eine Weile lang noch stehen und schaute Barsaumo schweigend an. Schließlich gab Barsaumo auf und verschwand hinter der Tür seines Raumes.
Am Abend klopfte es an seiner Tür. In den letzten Wochen hatte niemand an seiner Tür geklopft. Er vermutete, es sei Gabriel. Er wurde aus seinen Gedanken herausgerissen. Wieder musste er an jenen tragischen Unfall im Hause des damaligen Wesirs Muhammad Ali denken. Die kurdische Schönheit starb vor ihm auf dem Boden. Er schloss seine Augen und hielt seine linke Hand vor seinen
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