Liebe und Völkermord
seiner Kehle heraus, nahm sie in seine Hände, setzte sich auf den Felsen und schaute sich das Bein an. Die Herde trieb weiter, doch er beachtete sie nicht mehr. Das Blut strömte herunter und tropfte auf seine schwarze Stoffhose. Das Tier gab Töne von sich wie das Stöhnen von Menschen. Es litt. Isa beobachtete die kleine Basse mitleidsvoll. Er weinte sogar. Wie sollte er ihr nun helfen? Er musste sie zum Arzt bringen, doch bis er zum anderen Ende des Dorfes angekommen wäre, hätte Basse schon zu viel Blut verloren. Er nahm einen vor ihm liegenden spitzen Stock und drückte die Spitze durch die untere Hälfte der linken Seite seines Hemdes. Er warf den Stock weg und riss mit beiden Händen sein Hemd entzwei. Dann nahm er das kleinere Stück und band es um Basses Wunde. Sie hatte ihre Augen geschlossen. Isa starrte sie schockiert an. Vielleicht war sie bereits tot. Er erhob sich. Er stand auf dem Gipfel des Hügels auf der Nordseite des Dorfes. Laut verfluchte er den Kurden Mahmud. Dieser hatte ihn schikaniert und ihm die Weide auf der besseren Südseite verweigert.
Gerade als er herunterlaufen wollte, in Richtung des Dorfes, zur Südseite, um den kurdischen Arzt aufzusuchen, da sah er, wie die Steine zu seinen Füßen auf und ab hüpften. So etwas hatte er noch nie gesehen. Die Erde bebte. Das war ihm erst jetzt aufgefallen. Er dachte nach, doch konnte er sich nicht erklären, warum die Erde bebte. Noch nie hatte es hier ein Erdbeben gegeben. Träumte er nur? War er nicht mehr klar bei Verstand? War er verrückt geworden?
Wahrscheinlich war er verrückt geworden, dachte er. Er taumelte hin und her. Er schaute zum Himmel auf, die Sonne stand im Osten und verbrannte sein Gesicht. Alles um ihn herum drehte sich.
Doch dann plötzlich hörte er etwas. Es waren Schreie. Schreie von Männern. Noch konnte er sie nicht orten. Nach einem kurzen Moment war er sich sicher, die Männerschreie kamen südlich von ihm, aus dem Tal hinter dem Dorf. Immer noch war sein Blick auf das Dorf gerichtet. Die Stimmen wurden immer lauter. Er fürchtete sich davor, sich umzudrehen. Ängstlich schloss er seine Augen und drehte sich um. Dann öffnete er sein linkes ein wenig. Er erschreckte sich und riss seine Augen weit auf. Das Tal war schwarz bedeckt. Hunderte, gar tausende Soldaten stürmten in die Richtung des Hügels auf ihn zu.
Abdullah Raschid hatte im Morgengrauen den Lärm der Menschenmenge vernommen. Den Tee in der Kanne hatte er nicht einmal angerührt und war sofort zum Innenhof der Kirche des Dorfes geeilt.
Den kleinen Mann hatte er schon in Badibe gesehen. Er überlegte, wie sein Name war, Meridschan hatte ihn mehrmals erwähnt. Mehrere Dutzend Männer standen vor ihm, junge und alte. Sie bildeten einen Halbkreis. Vorne, direkt vor ihnen, standen neben Abuna Malke Matthias und Gaurije. Ein Raunen ging durch die Menge. Einige schüttelten den Kopf. Dann hörte der kurdische Arzt etwas von einem Mord. Er fragte den Mann zu seiner Rechten, worum es bei dieser Versammlung ginge. Er war der Sohn einer seiner besten Patienten, Daniel, der Sohn des Aljas, dem Lehrer des Dorfes. Daniel erzählte ihm, diese Badeboje vor ihnen, der kleine Mann und der andere junge Mann neben ihm, würden behaupten, ihr Dorf würde schon bald von einer türkischen Armee überfallen werden. Auch er würde es ihnen nicht glauben.
Die Männer hielten inne, als Gaurije von der Verteidigung ihres Dorfes durch seine tapferen Bewohner berichtete. Sogar die Jesiden hätten treu und mit vollem Einsatz an ihrer Seite gegen die Moslems gekämpft. Und sogar muslimische Zigeuner, welche sich im Tal und in den Höhlen unweit des Dorfes aufhielten, hätten ihnen ihre Unterstützung angeboten. Gaurije übertrieb an einigen Stellen und log in Bezug auf die Unterstützung der Zigeuner. Er tat dies, um den Kafroje Mut zu machen und weil er in diesem Moment aufgeregt war. Noch nie in seinem ganzen Leben hatten ihm so viele Männer zugehört.
Einer der Männer hob seinen rechten Arm, es war Gharib, aus der Sippe des Ibrahim. „Woher wollt ihr wissen, dass sie gerade hierher kommen? Wenn alles stimmt, was du uns erzählt hast, dann haben sie sich zurückgezogen. Ich glaube nicht, dass sie kommen werden.“
Aljas, der Lehrer des Dorfes, bahnte sich einen Weg frei durch die Menge, stand nun vor den Männern und richtete seinen Blick auf Gharib. „Du bist naiv! Natürlich werden sie kommen. Sie wollen uns unser Land, unser Hab und Gut nehmen. Sie sind auf fette
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