Liebe unter Fischen
ihre Sonnenbrille auf und duckte sich so tief wie möglich unter das Lenkrad ihres kleinen, roten Peugeot.
Sie atmete nicht erleichtert auf, als sie das Schild » Auf Wiedersehen in Grünbach« sah, denn sie wäre eigentlich sehr, sehr gerne von Fred Firneis entdeckt, überrascht und an der Flucht gehindert worden. Aber es durfte kein Zurück geben.
Sie musste dieses Opfer bringen.
Auch wenn es Fred vielleicht verletzte – sie musste aus seinem Leben verschwinden, um ihn vor der noch gröberen Verletzung durch die Wahrheit zu behüten.
24 . Juli
Warum immer mir? Warum immer dasselbe? Fred hatte mit dem Haus- respektive Hüttenputz begonnen, aber das euphorische Gefühl vom ersten Mal wollte sich nicht und nicht einstellen.
Es gibt zwei Dinge, die wirklich schlimm für mich sind, dachte Fred, während er auf dem Boden kniete und den Holzboden schrubbte:
Das eine ist, wenn mich jemand belügt. Das macht mich wütend, aber wenigstens nur wütend.
Das andere ist, wenn jemand plötzlich verschwindet. Das macht mich hil fl os. Das bringt mich fast um.
Die Urangst, verlassen zu werden, war für Fred ein jederzeit abrufbares Gefühl. Und eines noch dazu, das in seinem Leben ständig wiederkehrte. Fred zerstritt sich mit niemandem. Fred brach aus keiner Beziehung aus. Fred wurde verlassen. Von seinem Vater. Von seinem Freund Kurt, mit dem er als Kind jede freie Minute verbracht hatte, und der plötzlich nicht mehr mit ihm spielen wollte. Von seiner ersten Liebe Nadia, mit der er ein Rendezvous bei der Bushaltestelle hatte, und die kühl winkend davonfuhr, während Fred dem Bus nachlief. Von seiner zweiten Liebe Kathi, die – aus seiner Sicht völlig grundlos und ohne eine Erklärung abzugeben – von einem Tag auf den anderen nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. » Bist du eh nicht böse ?« , diese Frage hörte Fred dann manchmal Jahre später, und dieses indirekte Eingeständnis, sich mies verhalten zu haben, machte es um nichts besser.
Zuletzt hatte ihn Charlotte verlassen. Eines Tages war sie plötzlich weg. Und so sehr er auch sich selbst dafür verantwortlich machte, und so sehr er das Muster aus Ängsten und deren permanenter Wiederkehr durchschaut hatte, so sehr schmerzte es doch jedes Mal.
Plötzlich ganz allein dastehen. Seit mein Vater sich aus meinem Leben verabschiedet hat, lebt diese Angst in mir, dachte Fred, während er sich nun mit einer Drahtbürste am Tischherd zu schaffen machte. Für ein achtjähriges Wiener Kind der siebziger Jahre befand sich Berlin auf einem anderen Kontinent, hinter dem Eisernen Vorhang. Und auf der anderen Seite befand auch ich mich, und manchmal glaube ich, immer noch da zu sein, hinter dem Eisernen Vorhang. Wenn meine Mutter mal später vom Einkaufen zurückkam, weil sie irgendwen getroffen hatte und noch auf einen Kaffee gegangen war, bin ich zu Hause fast vor Angst gestorben. Mir war ganz klar, dass ich nun alleine bleiben würde, sie hatte sich sicher auch aus dem Staub gemacht, oder war unter ein Auto gekommen oder ermordet worden, in einem Keller gefangen, die Polizei würde mir die traurige Nachricht überbringen oder die Verbrecher würden anrufen oder die Leute vom Kinderheim, die mich abholen, sie würden mir sagen, deine Mama kommt leider nicht wieder, sie ist weg, sie ist fort, sie ist tot, für immer, auf ewig, und ich konnte nichts mehr denken und nichts mehr tun, ich war sogar zu starr zum Heulen, ich saß einfach nur da, mit eiskalten Händen und eiskalten Füßen, und im Kopf war auch kein Blut. Erst als ich die Schlüssel an der Wohnungstür schleifen hörte, das Abstellen des Einkaufskorbs im Vorzimmer, da begannen mir die Tränen heiß über die Wangen zu laufen, ich wischte sie weg und lief hinaus, umarmte Mama, sie war so weich und warm und lebendig. Da. Für mich. Um mich.
» Was ist los ?« , fragte sie.
» Nichts«, sagte ich.
Sie fragte nie nach, warum ich weinte. Das Gefühl des Alleinseins kehrte wieder, auch wenn ich nicht alleine war. Alleinsein ist nicht das richtige Wort. Getrenntsein. Getrennt von allem. Würde keiner von mir glauben. Wo ich doch so witzig bin!
Fred wischte die Gedanken im wahrsten Sinne des Wortes beiseite. Er war jetzt bei den Fenstern angelangt. Er hielt kurz inne und sah auf den See. Dort, auf dem Steg, waren sie vorgestern noch gelegen. Er hatte geglaubt, Mara würde ihn auch mögen. Anscheinend war dem doch nicht so. Gestern hatte er den ganzen Tag auf sie gewartet. Heute wartete er nicht mehr. Mara würde
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